Nanna Lüth
Was heißt hier Haltung?
Auf der Suche nach diskursiven und politischen Schnittmengen mit Journalismus, Erziehungswissenschaft, Theaterpädagogik, Philosophie und diskriminierungskritischer Bildungsarbeit aus künstlerisch-pädagogischer Perspektive.
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Der Begriff der Haltung wird im Feld der Kunstpädagogik und der kulturellen Bildung häufig und gerne eingesetzt. Er wird verwendet für kritische Positionierungen sowie gesellschaftspolitische Stellungnahmen von Kunstvermittler*innen und -pädagog*innen (z.B. Aurora Rodonò 2019[1], das Projekt Haltung zeigen! im Rahmen von lab bode 2019[2], Carmen Mörsch 2022). An anderer Stelle wird eine »kunstähnliche Haltung« in der Kunstpädagogik gefordert (Selle 1998, zitiert nach Peez 2018: 71) oder aber Haltung ermöglicht forschendes Lernen (Erni/Schürch 2013) oder qualitätvolle »Beziehungsarbeit zwischen Lehrenden und Schüler[*inne]n« (Lenk/Wetzel 2014). Mit Ausnahme der letztgenannten Publikation[3] wird nicht näher erläutert, was Haltung bedeutet. Im alltäglichen Sprachgebrauch kommen vor allem Formulierungen wie »Haltung einnehmen« oder »Haltung bewahren« vor (vgl. Duden 2022: Begriff Haltung, Typische Verbindungen: Verben). Damit stehen ein militärischer Befehl oder auch die Vermeidung von Fehlverhalten im Raum, beides Formulierungen, denen die klare Unterscheidung von richtigen und falschen Haltungen zugrunde liegt. In gesellschaftlichen Debatten hingegen ist inzwischen häufig die Rede vom »Haltung zeigen«. Dieser Ausdruck meint aktuell meist ganz konkret das Eintreten gegen Rechts oder gegen Diskriminierung und Rassismus (vgl. Georg 2021 sowie Hornscheidt 2021).
Das Interesse an dem Begriff ist also groß, das Spektrum der Bedeutungen breit.
Auch im Vorwort der Ausgabe der Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit zum Thema ›Haltung‹ 2021 wird die flexible Semantik des Haltungsbegriffs dargelegt. Dieser »Containerbegriff« mit starkem »Aufforderungscharakter« (Becker/Gessner 2021: 6) habe eine problematische Geschichte. Becker und Gessner erläutern, wie Haltung auch durch die Nazis propagiert und gefordert wurde, um den normativen Referenzrahmen zu verschieben und beispielsweise Tötungsbereitschaft der Deutschen während der Nazi-Zeit herzustellen (vgl. ebd.: 7). Aufgrund der Flexibilität im heutigen Sprachgebrauch und der historischen Vorbelastung sehen die Autor*innen die dringende Notwendigkeit, den Begriff genauer zu betrachten (vgl. ebd.: 6f.).
Die Gründe meiner Fragen nach dem Was und Wozu und Wie knüpfen hier an. Erstens beschäftigt mich der teilweise widersprüchliche Einsatz von Haltung bzw. die beschriebene Dehnbarkeit. Entsprechend frage ich mich, welcher Begriff der Haltung besonders im kunstpädagogischen Kontext an der Schnittstelle zur politischen Bildung verwendet werden kann. Wo liegen seine Potenziale und Grenzen? Was setzt der Begriff voraus? Und welche Bezüge bestehen zwischen den im folgenden geschilderten Auffassungen von Haltung und künstlerisch-pädagogischer Praxis?
In letzter Zeit haben einige Autor*innen aus verschiedenen Arbeitsfeldern den Begriff präzisiert und zum Teil problematisiert. Ich greife zur Beantwortung meiner Fragen auf Ausführungen aus den Bereichen Journalismus, Erziehungswissenschaft, Theaterpädagogik, Philosophie und Bildungsarbeit zurück. Damit habe ich mich für Verhandlungen von Haltung entschieden, die sich explizit mit diskriminierungskritischer bzw. demokratischer Haltung beschäftigen und für solche, die Haltung mit der Reflexion von Wahrnehmung oder Verkörperung verbinden.[4]
Haltung zeigen!? – Wofür steht Haltung?
Die Journalistinnen Anja Reschke und Mely Kiyak beispielsweise haben beide 2018 Taschenbücher publiziert, in denen sie sich mit Haltung auseinandersetzen. Obwohl sich Reschke und Kiyak beide gegen Rechtspopulismus positionieren, gehen sie den Begriff der (politischen) Haltung unterschiedlich an und ziehen dann auch unterschiedliche Schlüsse.
Anja Reschke thematisiert schon in ihrem Vorwort, dass äußere und innere Haltung zusammengehören (vgl. 2018: 9). Im Rahmen der anschließenden Begriffsklärung verwendet sie drei Redewendungen, sie spricht erstens vom »Haltung bewahren« als »eleganteste[r] Form« (ebd.: 13), zweitens vom »Haltung annehmen« als »körperliche[r] Variante« (ebd.: 16f.) mit militärischen Anleihen und drittens vom »Haltung zeigen« als »mutigste[r] Variante« (ebd.: 19). Nebenbei suggerieren ihre Beispiele für die erste und zweite Erscheinungsform klar voneinander zu unterscheidende weibliche und männliche Verkörperungen von Haltung: Im Absatz »Bella Figura« wird die feminisierte Variante der Contenance noch einmal ausgeführt und gerät zu einem Plädoyer für ein gepflegtes Äußeres und zugleich harmonisch-zurückhaltendes Verhalten (vgl. ebd.: 27ff.). Neben den geschlechtlichen Zuschreibungen werden zugleich ohne Weiteres ursprünglich höfische Tugenden positiv aufgegriffen und so klassistische Ordnungen reproduziert.
Über Erziehung zur geraden Haltung am Esstisch mittels Besenstiel wird berichtet, Korsett und Mieder werden heranzitiert, denn Haltung zeigen finge mit dem Äußeren an (vgl. Reschke 2018: 29, 30f., 36). In Bezug auf Politik hingegen steht das Zeigen von Haltung hier dafür, sich laut und deutlich gegen menschen- und demokratiefeindliche Aussagen zu äußern. Reschke sieht die Auseinandersetzung auch mit extremen Einstellungen als Aufgabe demokratischer Zivilgesellschaft an (vgl. Deutschlandfunk 2018).
Abb. BU: Haltung zeigen! Aktion des Regierungspräsidiums Kassel anlässlich des zweiten Jahrestages des Todes von Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke (https://haltungzeigen.eu), Kassel, 2022, © Nanna Lüth.
Mely Kiyak beschäftigt sich ganz zuletzt mit Körperhaltung (vgl. Kiyak 2018: 57). Die Kolumnistin vertritt im Kern – man könnte den Essay glatt als Replik auf Reschkes Äußerungen lesen –, dass es mittlerweile in Bezug auf nationalistische und neofaschistische Tendenzen zu spät sei, »Haltung zu zeigen«, sprich explizit dagegen Position zu beziehen (vgl. ebd.: 15ff.). So wird in diesem Essay gegen das Lautsein, so der Untertitel von Kiyaks Buch Haltung, wiederholt darauf hingewiesen, dass das Einstehen für eine pluralistische, empathische oder demokratische Haltung eine Frage des »richtigen Zeitpunkts« sei (ebd.: 18). »Sobald Antidemokraten in Parlamenten sitzen, hilft kein Warnen mehr« (ebd.: 25). Sie beschreibt, wie »eine Handvoll Publizisten Anfang der 2000er Jahre in den Redaktionen um Schulterschluss [gegen rechtsextremistische Rhetorik und Gewalt] bat […]« und »auf taube Ohren [stieß]« (ebd.: 21). Ja, es wurde diesen vermutlich migrantisierten Journalist*innen vorgeworfen, aufgrund eigener Betroffenheit überempfindlich zu sein. Erst mit der Diffamierung von Journalismus per se als »Lügenpresse« begannen die gleichen Kolleg*innen, aktiv zu werden (vgl. ebda). Soviel also zu verschieden situierten Ansichten über den richtigen Zeitpunkt für die Positionierung gegen Rechts.
Als Problem sei inzwischen überdeutlich geworden, dass bei Äußerungen von rechten Akteur*innen nicht nur in den Medien die Entgegnung schon einkalkuliert sei (vgl. ebd.: 11f.). Kiyak plädiert angesichts dieser Dynamik von kalkulierter Provokation und empörter Gegenrede dafür, den »Widerspruch ohne Konsequenz« zu ersetzen durch »Widerspruch durch Konsequenz« (ebd.: 12). Als Konsequenzen in diesem Sinne benennt sie die Auflösung von Demonstrationen bei Übertretung von Regeln zum Schutz der Öffentlichkeit oder die bewusste Nicht-Einladung von Mitgliedern von Parteien mit menschenverachtender Agenda in Nachrichtensendungen und Talkshows (vgl. ebd.: 12f.). Um den inzwischen wohlfeilen Aufrufen gegen permanente rhetorische Grenzüberschreitungen zu entgehen, habe sie sich nach Jahren der Entgegnung entschieden, den lauten und folgenlosen Protest nicht mehr mitzumachen (vgl. ebd.: 17).
Widerstand könne, so Kiyak, nämlich auch darin bestehen, Mobbing oder Polarisierung ins Leere laufen zu lassen. Haltung könne auch heißen, sich eine Weile zu entziehen, um Kraft zu sammeln (vgl. ebd.: 53f.). Und schließlich zu den Mitteln zu greifen, vor denen »die Feinde […] der Demokratie […] am meisten Angst haben: Wahrheit, Weisheit, Witz und Wissen« (ebd.: 61). Bei aller Kritik wendet sich Kiyak nicht vollständig ab vom Begriff der Haltung, sie schlüsselt ihn jedoch auf als situiertes Phänomen und befragt kritisch manch vordergründig »lautes«, aber verspätetes Lippenbekenntnis.
Der Erziehungs- und Bildungswissenschaftler Andreas Tilch geht ausdrücklich der Idee einer »rassismuskritischen Haltung« nach (Tilch 2020). Er konstatiert, dass eine Haltung »als tiefergehende Struktur hinter der Praxis [erscheine]« (ebd.: 169). Tilch unterscheidet Haltung von Habitus als dem umfassenderem Konzept, in dem mehrere Haltungen eines Subjekts enthalten seien (vgl. ebd.: 170). Haltung trete hier als »eine Praxis [auf], in die Körper involviert [seien]« (ebd.: 171). Mit Michel Foucault versteht Tilch »die Einnahme einer kritischen Haltung« als »„Prozess der ›Entunterwerfung‹ (Foucault 1992, S. 15)« (Tilch 2020: 172).
Als Ziel rassismuskritischer Bildung bezeichnet er die »Begünstigung der Aneignung einer auf Dauer gestellten und entschiedenen rassismuskritischen Haltung, die sich […] solidarisch mit Unterworfenen [sic!] Menschen und unterworfenem Wissen zeigt und durch Kritik und Widerstand fordernd für diese/s eintritt« (ebd.: 180). Tilch erläutert die im Begriff der (rassismus-)kritischen Haltung enthaltenen Spannungsverhältnisse zwischen Fehlerfreundlichkeit und Verletzungssensibilität (vgl. vertiefend Goel 2020). Dabei geht er von der Veränderbarkeit von Haltung qua Bildung aus. Überwiegend adressiert er dabei eine weiße Leser*innenschaft, die sich zwar solidarisch zeigen solle, jedoch nicht selbst als unterworfen angesprochen wird. Gegen Ende weist er auf verschiedene Betroffenheiten und entsprechende Handlungsoptionen gegen Rassismus hin (Tilch 2020: 177ff.). Gemeinsam sei den »Rassismus-erfahrungsbegabten« und »Rassismus-erfahrungsunbegabten« Personen – diese Begriffe übernimmt Tilch von Paul Mecheril (2013) –, dass die Entscheidung, etwas an der Unterdrückung und Ungleichheit durch Rassismus zu ändern, zwei Wissensebenen beträfe: einerseits das ›knowing that‹, das Wissen über die Geschichte und Wirkweisen von Rassismus, und andererseits das ›knowing how‹ das Wissen, wie Rassismuskritik angewendet und der strukturierenden Ordnung entgegen gearbeitet werden könne.[5] Das ›knowing how‹ versteht Tilch mit Ryle (2015: 26ff.) als verkörpertes und praxisrelevantes, zugleich »schwer explizierbar[es]« Wissen (Tilch 2020: 180). Zwar wird hiermit eine Verschränkung von Körperwissen und Rassismuskritik angedeutet, jedoch wird nicht genauer auf konkrete Erfahrungen oder Veränderungspotenziale eingegangen. Rassismuskritische Haltung bleibt so ein relativ virtuelles Phänomen.
Für kritisch-reflexive künstlerisch-politische Bildungsarbeit lässt sich in der Zusammenschau der drei Lektüren deren Auffassung von Haltung durchaus als Leitlinie ansehen. Zusammengefasst zeigt sich in der Kombination von Reschkes und Kiyaks Ausführungen, dass der Begriff der Haltung im aktuellen Kontext für das Eintreten gegen Rechts und insbesondere Antirassismus verwendet wird. Während Reschke auf der Notwendigkeit der fortwährenden Gegenrede gegen antidemokratische und menschenverachtende Äußerungen besteht (und sie dieses Handlungsmuster als Haltung für sich aus einer weißen Position beansprucht), begegnet Kiyak aus einer migrantisierten Perspektive ihrer Beobachtung der Ineffektivität von verspäteten, symbolischen Stellungnahmen mit der Forderung nach tatsächlichen Konsequenzen gegen nationalistische und menschengruppenfeindliche Akteur*innen einerseits und Ideen der Selbstsorge für die Angegriffenen andererseits. An diesen unterschiedlichen Schlüssen wird die Situiertheit von Kritik deutlich.
Tilch formuliert die meist unausgesprochene Einschränkung der Bedeutung aus, indem er sich auf »rassismuskritische Haltung« als Dreh- und Angelpunkt von rassismuskritischer Bildung konzentriert. Mit dem hinzugefügten Adjektiv lehnt er sich an die migrationspädagogische Theoriebildung von Paul Mecheril und Kolleg*innen an, die wie Kiyak zwischen unterschiedlich von Rassismus betroffenen Subjekten unterscheidet. Die verschiedenen Rassismuserfahrungs(un)begabtheiten erfordern, so Tilch, Verhaltensweisen, die sich zwischen Fehlerfreundlichkeit und Verletzungssensibilität bewegen. Weiterführend sieht er die Fähigkeiten von rassismuskritisch gebildeten Subjekten darin, dass sie in der Lage sind, Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft erkennen und verändern zu wollen und zu können. Damit ist schon ein Potenzial von rassismuskritischer Haltung formuliert. Im folgenden Absatz geht es mit Texten von Ute Pinkert und Frauke A. Kurbacher um weitere Potenziale und Grenzen von Haltung aus theaterpädagogischer und philosophischer Sicht.
Transformation verkörpern, sich für Polyperspektivität entscheiden – Wo liegen die Potenziale und Grenzen von Haltung?
Ute Pinkert fragt nach der Bedeutung von Haltung in der Theaterpädagogik. Dabei geht die Autorin von Berthold Brechts Theorie, seinem Begriff des Gestus und der daraus in den 1970/80er Jahren entstandenen Lehrstückbewegung aus (vgl. Pinkert 2021: 36f.). Grund hierfür ist, dass auch sie einen »Haltungsbegriff« wahrnimmt, »der sich aktuell in zahllosen Appellen und Erklärungen der deutschsprachigen Theater findet« (ebd.: 33). Sie kritisiert, dass Haltung im Kunstbetrieb dabei »assoziiert [sei] mit Festigkeit, Standhaftigkeit, Stärke«.[6] Dabei geht sie so weit, einen solchen »Haltungsbegriff als essentialistisch zu kennzeichnen« (ebd.). Als Beispiel hierfür zitiert sie unter anderen Reschke (2018). Allerdings hält auch Pinkert fest daran, Haltung für die theaterpädagogische Arbeit mit einem transformatorischem Bildungsverständnis beanspruchen zu wollen, allerdings eben in einer nicht-essentialistischen Version (vgl. ebd.: 34). Aus dieser Position lehnt sie es ab, »die künstlerisch-pädagogische Arbeit an fixierten Größe bestimmter Überzeugungen auszurichten« (ebd.), auch wenn sie gesellschaftlich noch so vertretbar oder wünschenswert erscheinen. Anders als bei Tilch wird Haltung hier als etwas angesehen, »das sich der Kontrolle der Person weitgehend entzieht« (ebd.: 35). Haltungen kommen demnach Pierre Bourdieus Habitus nahe, denn sie »werden […] durch das Handeln der Person in konkreten historischen sozialen Zusammenhängen geprägt« (ebd.). Körperliche Nachahmung ist dabei grundlegend (vgl. ebd.: 36). Die spielerische Untersuchung und Transformation der eigenen Haltung im Entwicklungsprozess von Stücken gehe »durch die Körper«, so Pinkert (ebd.: 43). Die Veränderung aber geschehe jeweils selbstbestimmt und unterschiedlich. Das sei die entscheidende Differenz zur Repräsentation einer vorab definierten eindeutigen Bewertung oder Meinung, z.B. im Jugendtheater.[7] Eine nicht-essentialistische, sondern transformative Variante von Haltung, die sie für theaterpädagogische Arbeit anstrebt, hingegen beinhalte die individuelle und kollektive Gestaltung von Selbst- und Weltverhältnissen (vgl. Koller 2012, zit. n. ebd.).
Verfolgt man den sprachlich der Haltung quasi synonymen Begriff des Habitus etwas weiter, so tritt auch die Frage nach Beherrschtheit und Disziplinierung (nicht nur) der Körper wieder auf den Plan. Die soziologische Auffassung des Habitus nach Pierre Bourdieu nämlich versteht »darunter die Gesamtheit der relativ festgelegten Einstellungen und Gewohnheiten einer Person oder einer sozialen Gruppe […]« (Barlösius 2011 [2006]: 54, Herv. N.L.). Bourdieu hatte beobachtet, dass »Praktiken und Wahrnehmungen von Individuen in vergleichbarer sozialer Lage« (ebd.: 45) sich ähneln. Daraufhin konzipierte er den Habitus als »Vermittlungsinstanz […], in der sozial schöpferische Fähigkeiten mit strukturell reproduzierenden Elementen verschränkt sind« (ebd.: 48). Die kollektiven Dispositionen und Handlungsschemata, die unbewusst von Angehörigen einer Gruppe, z.B. sozialen Klasse, an die nächsten Angehörigen weitergegeben bzw. andererseits ebenso unbewusst übernommen werden, garantieren die relative Stabilität gesellschaftlicher Milieus und Ordnungen. Grenzen der Veränderung des Habitus ergeben sich aus der Hartnäckigkeit und Unbewusstheit der erlernten Körper-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster.[8]
»Gleichwohl sei das Generieren von Handlungspraktiken mit dem Ziel, Strukturen und Mechanismen aufzubrechen, von hoher Bedeutung« (vgl. Bourdieu 2011b, 92 f., zit. n. Menth 2022: 116). Allerdings erfordere die Übernahme des Habitus eines Feldes, in das eine Person nicht hineingeboren wurde, mehr als »spontane Willensentscheidungen«. Es handele sich vielmehr um »einen langwierigen Prozess von Kooptation und Initiation, der einer zweiten Geburt gleichkommt« (Bourdieu 1999: 125, zit. n. Pille 2013: 13).
Die folgende Bestimmung des Haltungsbegriffs weist Parallelen auf zu Pinkerts Unterscheidung zwischen essentialistischer und nicht-essentialistischer Haltung. Die Philosophin Frauke A. Kurbacher eröffnet einen differenzierenden Ansatz, indem sie – vergleichbar mit Bourdieu – sowohl stabilisierende als auch mobilisierende Potenziale von Haltung in den Blick nimmt (vgl. Kurbacher 2021: 10). Sie skizziert eine »Philosophie der Haltung«, die eine Praxis der Verantwortung mit sich bringen soll (vgl. ebd.: 12). Untersucht wird die »ethische Relevanz [von Haltungen]« und »nwiefern sie uns Orientierungen in einer pluralen Welt zu geben vermögen« (ebd.). Die »menschliche Existenz [wird] grundlegend als bezügliche auf[gefasst]« (ebd.: 13). Menschen kämen um das sich Halten nicht herum (vgl. ebd.: 14). Dabei spiele der Umgang mit Menschen, Begriffen und Situationen eine Rolle, ein „Umgang[, in dem] alle beteiligten Relationen reflektiert werden können“ (ebd.: 20). Haltung basiere laut Aristoteles auf einem Moment der Entscheidung und ein Mensch mit Haltung stelle sich auch den Konsequenzen seiner Entschlüsse (vgl. ebd.: 17). Mit dieser Betonung der der Haltung zugrundeliegenden eigenen Entscheidung wird auch die Fähigkeit zu differenzierendem Urteilen, die besonders in kritischen Situationen erforderlich sei,[9] vorausgesetzt. Kurbacher thematisiert sie mit Kant[10] und Arendt als ästhetisch-reflektierende und außerdem in der Gemeinschaft entstehende Urteile (vgl. ebd.: 19). Dazu gehöre »der mögliche Bezug zu Anderen in Form der Konfrontation mit anderen, differenten Positionen im eigenen Innern ebenso wie im gemeinsamen Austausch« (ebd.). Zentral für ihre Bestimmung von Haltung ist aus einem künstlerisch-pädagogischen Blickwinkel folgender Satz: »Bemerkenswert scheint, dass das aus dem Ästhetischen entwickelte Urteilen eben nicht vom Gedanken der Normativität aus der Perspektive eines gebotenen Sollens kommt, sondern aus der Polyperspektivität der verschiedenen Weltzugänge« (ebda). Im Anschluss hieran lässt sich verstehen, warum für Kurbacher Haltung mit Relationalität und Pluralität zusammenfällt (ebd.: 23f.). Der dritte Baustein der Freiheit folgt daraus: Sie entstehe nämlich in pluralen Verhältnissen, indem sie einerseits Differenz achte, d.h. »Halt mach[e] vor dem SoSein des[*der] Anderen«, und sich andererseits ihm*ihr »aus Freiheit« zuwende […] und einen Dialog, Widerstreit[11] oder Bindungen eingehe (ebd.: 24). Dieses Verständnis von Haltung stimmt für sie überein mit den Verfassungswerten einer freiheitlichen Demokratie, das sie als Basis eines guten Zusammenlebens ansieht (vgl. ebd.: 29, 30).
Indem Kurbacher schließlich Haltung ganz klar von Gesinnung unterscheidet und somit die zu beobachtende Rigidität in selbstgerechten, menschenfeindlichen Aussagen nicht mehr unter Haltung fasst (vgl. ebd.: 25), lässt sich eine positive Bezugnahme auf Haltung aus einer demokratischen und pluralistischen Perspektive gut vertreten.
Für Pinkert als Theaterpädagogin stellt Körperlichkeit einen zentralen Faktor dar. Denn ohne physische Übersetzung ist Haltung auf der Bühne nicht wahrnehmbar. In der theaterpädagogischen Arbeit, die zudem auf den Einbezug der beteiligten Personen Wert legt, ist ein Fokus auf die Unterschiede zwischen »körperlichen und sprachlichen Haltungen« (Pinkert 2021: 41), zwischen Verkörpertem und Behauptetem daher entscheidend, wenn transformatorische Bildung Realität werden soll (vgl. Pinkert 2021: 43). Hier lässt sich anknüpfen an Kurbachers auf Aristoteles gestützte Hervorhebung des Moments der Entscheidung und damit der persönlichen Verantwortung der*des Einzelnen zum Beispiel für das politische oder Bildungsgeschehen, an dem sie*er beteiligt ist. Indem Pinkert auf die Selbstbestimmung und Individualität der Darstellung von veränderten Haltungen durch Teilnehmer*innen von theaterpädagogischen Projekten eingeht, spricht auch sie – in Kurbachers Sprache – von Polyperspektivität statt Vereinheitlichung. Auch das Angewiesensein der theatralen Aufführung von Haltungen auf ein Publikum, also ein Gegenüber, das nicht unbedingt die gezeigte Haltung kennt oder teilt, verdeutlicht die Unvollständigkeit des Einzelnen wie auch der kulturellen Darbietung, die mit Kurbacher als Relationalität bezeichnet werden würde.
Pinkert wie Kurbacher differenzieren Haltung aus ihrer jeweiligen professionellen Perspektive und stützen sich dabei auf positive Begrifflichkeiten wie Transformation, Polyperspektivität, Verantwortung, Pluralität, Relationalität und Freiheit, welche für sie progressive gesellschaftliche Verhältnisse und Orientierungslinien von Haltung ausmachen. Für beide ist es ausschlaggebend, sich klar von Essentialismus wie von Gesinnung abzugrenzen.
Wahrnehmung verlangsamen, Verletzlichkeit wertschätzen – Was setzt Haltung voraus?
Nach diesen Lektüren wirkt es schlüssig, dass auch die Erziehungswissenschaftlerin Katja Kinder und die Literaturwissenschaftlerin*[12] Peggy Piesche in ihrer »prozessorientierte[n] Intervention« im Bereich der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit mit Wahrnehmung und Haltung beginnen (Kinder/Piesche 2020). In ihrer Broschüre mit dem Titel Wahrnehmung – Haltung – Handlung legen die Autorinnen* zwar nicht die Geschichte oder den Bedeutungsumfang der drei titelgebenden Begriffe dar. Sie setzen sie jedoch durch die Reihenfolge im Titel in einen Zusammenhang und beschäftigen sich vor allem mit Fragen einer Reflexion von Wahrnehmung, die sie als „Voraussetzung für eine klare Haltung“ ansehen (ebd.: 3, Herv. N.L.). Im Unterschied zu Tilch adressieren sie vor allem Schwarze Menschen und People of Color ausdrücklich als Akteur*innen, die Bildung gestalten (vgl. ebda). Auch weiße Bildungsarbeiter*innen sind angesprochen, wenn sie sich »herrschaftskritisch in eine rassismus- und diskriminierungskritische Bildungsarbeit einbringen wollen« (ebd.).
Anhand einer Reihe von Abbildungen, die u.a. auf Vorstellungen über Flucht, Geschlechterdifferenzen und Familie zurückgreifen und als Repräsentationen von Diversität gelesen werden sollen, weisen die beiden Schwarzen Autorinnen* auf die darin enthaltenen Gegenüberstellungen einen »Wir« und eines »Ihr« hin, das in diese Bilder eingelassen ist (vgl. ebd.: 10). Diese binäre Unterscheidung fällt einer Vielzahl von weißen, männlichen oder cisgeschlechtlichen Betrachter*innen vermutlich von alleine nicht auf, da die Unterscheidungen sich auf hegemoniale Normen stützen. Mit Maisha Auma sprechen Kinder und Piesche von »Rassismus als ›eingeschliffene[m] Wahrnehmungssystem‹, das ›unsere Wahrnehmung, unsere Deutung und unsere Verarbeitung von sozialen Informationen‹ lenkt.“ (Auma 2018: 2, zit. n. Piesche/Kinder 2020: 15). Diese rassistischen Muster und Strukturen sollen – so Kinder und Piesche – befragt und unterbrochen werden. Zu diesem Zweck bedarf es des Innehaltens, um beispielsweise die gesammelten Bilder genauer zu betrachten und über die darin versteckten Botschaften nachzudenken (vgl. ebd.: 11). Momente der »Verstörung [, also einer] körperlich-sinnliche[n], emotionale[n] und auch kognitive[n] Reaktion auf etwas Gesagtes, Gezeigtes« (ebd.: 10) sind in diesem Kontext wichtig und halten fest, dass etwas nicht in Ordnung ist. Kinder und Piesche schlagen vor, über die wahrgenommenen Vorannahmen, Konflikte oder Widersprüche zu sprechen und sich dafür Zeit zu nehmen (vgl. ebd.). Diese Verlangsamung sehen sie als Mittel an, um angesichts von rassistischen Vorfällen übereilte Handlungen oder Reaktionen zu vermeiden. Stattdessen sei es wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen und erst dann eine »Lösung [zu finden], die alle Beteiligten in den Blick nimmt« (ebd.).
Die klare Haltung, die die Autorinnen* sich wünschen, ist also keine stabile Basis, nicht der »moralische Kompass«, der in der antirassistischen politischen Bildung zum Teil behauptet wird (ebd.: 13). Sie fordern stattdessen eine »selbst/kritische Standortbestimmung oder Positionierung« um »Wahrnehmungs-Räume für genau jene, die sonst nicht gesehen und/ oder mitgedacht werden« zu öffnen und »sich selbst in rassistischen, diskriminierenden und ausschließenden Situationen mitzunehmen« (ebd.). Wenn dieser notwendig beweglichen und veränderlichen Haltung dann Handlungen folgen, basieren diese eher auf dem dafür gebotenen kontextspezifischen Wissen (vgl. ebd.: 15). Um diese Ausführungen ergänzt, sieht der anfangs vorgeschlagene einfache Dreischritt dann so aus: »Selbst/kritische Wahrnehmung – positionierte Haltung und erst dann [kann] eine fundierte diskriminierungskritische Handlung [folgen]« (vgl. ebd.: 13).
Im zweiten »theoriegeleitete[n] Praxis«-Teil (ebd.: 19ff.) legen die Autorinnen* dar, welche Gefühle, Abwehr und Sensibilisierung im Kontext von rassistischen Phänomenen auftreten, um anschließend ihren Anspruch zu formulieren, nämlich, dass »[es gilt, diese] Unterschiedlichkeit von Erfahrungen […] sichtbar zu machen“ (ebd.: 21, Herv. i. O.). Wie diese Sichtbarmachung aussehen kann, skizzieren sie an »Positionierungsübungen«, die sie zu Beginn von »Workshops, Schulungen oder Seminare[n]« durchführen (ebd.: 23). Diese Übungen sind Zweierübungen, in denen Personen, die sich noch wenig kennen, sich anhand von selbstreflexiven Fragen gegenseitig vorstellen. Dazu gehört auch eine Einschätzung der eigenen Nähe oder Ferne zum Workshop- oder Seminarthema (vgl. ebd.: 24ff.). Dieses Kennenlernen, das bewusst darauf zielt, dass Teilnehmer*innen etwas von sich preisgeben und dabei der eigenen Zerbrechlichkeit nicht aus dem Weg zu gehen, soll es ermöglichen, fragile Lernräume und Austausch zu gestalten und zugleich die Grenzen der Anwesenden bzw. des gesellschaftlichen Kontexts besprechbar zu halten (vgl. ebd.: 27).
Kinder und Piesche stellen in ihrer Handreichung die Frage in den Vordergrund, wie Bildungsakteur*innen zu diskriminierungskritischen Haltungen und dann den entsprechenden Handlungen kommen können. Als Voraussetzung wird in ihrem pädagogischen Lehrgang die verlangsamte Wahrnehmung und das Innehalten angesichts von verstörenden, diskriminierenden Bildern trainiert, um – hier zeigen sich Anschlüsse an Kurbacher – Entscheidungen aus einem diskriminierungskritischen Blickwinkel besser informiert zu treffen. Das Kennenlernen der Positionierheit inklusive der Verletzlichkeit von zunächst unbekannten Menschen zeigt Möglichkeiten des Lernens im Austausch bei gleichzeitigem Verlernen der vermeintlich (zwischen Lehrenden und Lernenden) eindeutig verteilten Zuständigkeiten in Bildungssettings auf.
Zusammenschau: explizieren und situieren, verknüpfen und differenzieren, solidarisieren und gegensteuern
Durch das ausdrückliche Benennen, Kontextualisieren und Abgrenzen von Haltung in den zitierten Positionen wird deutlich, wie der Begriff jeweils aufgefasst wird und woran er sich orientiert. Kiyak und Reschke verbinden mit Haltung das Eintreten gegen Rassismus und Rechtspopulismus. Auch Tilch, Kinder und Piesche stellen aus pädagogischen Perspektiven Rassismuskritik ins Zentrum. Pinkert strebt transformatorische Bildung an, Kurbacher demokratisches Zusammenleben in pluralen Gesellschaften. Diese Ansprüche wirken bis zu einem gewissen Grad ähnlich, sind sich einig in einer Gegnerschaft. Die Autor*innen setzen jedoch aus ihren beruflichen und sozialen Positionierungen und den Schlüssen, die sie daraus ziehen, heraus unterschiedliche Prioritäten. Daher ist es unbedingt notwendig, die Begriffsbildung um Haltung als situierte zu begreifen, um genauer zu verstehen, welche Zielsetzungen und Ideen diese Akteur*innen mit Haltung verfolgen. Sonst muss es strittig bleiben, welche Maßstäbe an eine Theorie oder Praxis angelegt werden können, mit welchen Akteur*innen Bezugnahme oder Zusammenarbeit möglich ist und nicht zuletzt, an welchen Stellen Abgrenzungen oder Differenzierungen nötig sind.
Neben den mit diesem Diskurs verknüpften wissens- und bildungspolitischen Agenden deuten einige der Positionen an, was der besondere Zusammenhang der beschriebenen Auffassungen von Haltung mit ästhetischer, kultureller, künstlerischer Produktion und Bildung sein könnte. Bei Pinkert, Kurbacher und Kinder/Piesche werden ästhetische Prozesse entweder mit Haltung aufs Engste verknüpft (die Veränderung von Haltung, die »durch den Körper« hindurchgeht) oder als Voraussetzungen von Haltung gesehen. Haltung ist im Falle Pinkerts an die Sichtbarmachung durch Verkörperung im Theater/auf der Bühne gebunden. Kurbacher leitet für ihren Haltungsbegriff aus der ästhetischen Philosophie die Vorstellung einer pluralen Gesellschaft ab, die nicht aufgrund festgelegter Normen, sondern aufgrund der Abwägung der multiplen Perspektiven ihrer Mitglieder eine Basis des Zusammenlebens bildet. Bei Kinder und Piesche dient die Auseinandersetzung mit verstörenden, rassistischen Werbemotiven als Impuls und zugleich als Stop-Moment, um Affekten und gewaltvollen An/Ordnungen auf den Grund zu gehen, die »meine / unsere Lebenszusammenhänge« strukturieren (Kinder/Piesche 2020: 16). Der Fokus auf die dadurch ermöglichte selbst/reflexive Haltung soll übereiltes, oberflächliches Handeln ohne Untersuchung der Lage oder ohne Berücksichtigung der verschiedenen Beteiligten ersetzen. Die (visuelle) Wahrnehmung kann, anschließend an alle drei Positionen, m.E. als Beginn einer wiederkehrenden Verlangsamung und kontinuierlichen dialogischen Reflexion in der Bildungspraxis und also auch im Handeln angesehen werden.
Hier bleibt ein Unterschied zu diskutieren, der sich in der künstlerischen oder kunstpädagogischen Arbeit vielleicht etwas anders verhält als in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit von Kinder und Piesche. Die Reflexion von Wahrnehmung ist im künstlerisch-pädagogischen Setting nicht nur Voraussetzung von Überlegungen und Entscheidungsprozessen, sondern wird auch als Handlung verstanden. Handlungen in den Künsten und in der künstlerischen Bildung zielen nicht direkt oder jedenfalls nicht alleine auf die Verbesserung von Lebensumständen oder die Lösung von drängenden gesellschaftlichen Problemen. Vielmehr sind die Erhöhung der Aufmerksamkeit, die Verstörung und Kommunikation von spezifischen Eindrücken integrale Momente von künstlerischem Handeln. Oder anders gesagt: das Handeln, das Kinder und Piesche ansteuern, betrifft alle Lebensbereiche und ist an einem informierten und klugen Umgang mit Ungleichheiten, Verletzungen und Gewalt interessiert. Diese Zielsetzung teilen sie mit bestimmten Akteur*innen im Kunst- und Kulturbereich, beispielsweise mit einer differenzreflexiven oder diskriminierungskritischen Kunstpädagogik (vgl. Lüth 2018, Mörsch/Kunsthochschule Mainz 2022 sowie die Akteur*innen in der dort angelegten Materialdatenbank, https://diskrit-kubi.net/materialdatenbank/).
Die Verbindung des Begriffs der Haltung mit politischen und ethischen Fragen in den Bereichen Journalismus, Künste, Philosophie und Pädagogik bildet einen gemeinsamen Nenner der zitierten Texte. Die Bezugnahme auf Konsequenz(en) und Handlungen steht dabei im Zentrum, wenn es darum geht, Einstellungen und Transfer, Lippenbekenntnis und Realpolitik, Theorie und Praxis voneinander zu unterscheiden. Durch die beschriebenen situierten, freiheitlichen und transformatorischen Aspekte von Haltung verblasst die Assoziation mit Beherrschung und Disziplinierung, die im Alltagssprachgebrauch häufig mitschwingt. Zugleich bleiben die Wandelbarkeit und dialektische Eingebundenheit von Haltungen und Menschen in Machtverhältnisse zu berücksichtigen,[13] da das Bedürfnis, über diesen Begriff zu sprechen eben für einen historischen Moment steht, in dem »moralische und ethische Gewissheiten« in Frage stehen (vgl. Becker, Gessner 2021: 7). Es gilt, darauf zu achten und zu bestehen, dass Verfahren der (antirassistischen, transformatorischen und diskriminierungskritischen) Stellungnahme, der selbst/reflexiven Kritik und der Entunterwerfung tatsächlich gefunden und umgesetzt werden. Dass dabei die künstlerische und pädagogische Differenzierung Wahrnehmung, Urteilen und Handlungen bilden und unterstützen kann, macht differenzreflexive Kunstvermittlung und Theaterpädagogik für an Demokratie und Pluralität interessierte Haltungen wertvoll. Solidarisierung und Austausch sind gerade angesichts gesellschaftlicher Polarisierungen und Konflikte, die sich eben auch sprachpolitisch andeuten, erforderlich und sollten bestärken. In Zeiten von zunehmender Empathielosigkeit und Akzeptanz von Menschenfeindlichkeit bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust von Wissen, ausgewogener Information und Meinungsbildung allemal.
Literatur:
Auma, Maisha (2018): Rassismus. Eine Definition für die Alltagspraxis. Hg. v. Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. Berlin. URL: https://raa-berlin.de/wp-content/uploads/2019/01/RAA-BERLIN-DO-RASSISMUS-EINE-DEFINITION-F%C3%9CR-DIE-ALLTAGSPRAXIS.pdf [22.09.2022].
Barlösius, Eva (2011 [2006]): Pierre Bourdieu, 2. Aufl. Frankfurt/New York.
Becker, Reiner/ Gessner, Susann (2021): Drei Schlaglichter zum Thema Haltung (Editorial). In: Debus, Bernward/ Debus, Tesse (Hg.): Haltung. Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit. Schwalbach am Taunus: 5–9.
Brumlik, Mischa (2020): Immanuel Kant und der Rassismus. Lasst das Denkmal stehen. In: taz vom 26. 06. 2020. URL: https://taz.de/Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764/ [01.09.2023].
Buschkühle, Carl-Peter (2014): Vorsicht vor Haltungsschäden. In: Zeitschrift Kunst Medien Bildung. URL: http://zkmb.de/vorsicht-vor-haltungsschaeden/ [22.09.2022].
Deutschlandfunk (2018): Mely Kiyak und Anja Reschke über Haltung. Wenn ein Tabu kein Tabu mehr ist. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/mely-kiyak-und-anja-reschke-ueber-haltung-wenn-ein-tabu-100.html [01.09.2023].
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Rotter, Carolin/ Schülke, Carsten/ Bressler, Christoph (2019)(Hg.): Lehrerhandeln – eine Frage der Haltung. Weinheim/Basel.
Schnurr, Ansgar/ Dengel, Sabine/ Hagenberg, Julia/ Kelch, Linda (2021)(Hg.): Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik. Bielefeld.
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Wünschner, Philipp (2016): Gegen-Eigentlichkeit. Haltung – Indifferenz – Einsamkeit. In: Kurbacher, Frauke A./ Wüschner, Philipp (Hg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse. Würzburg: 109–128.
[1] ↑ Aurora Rodonò bot auf der Tagung Ambiguität. Demokratische Haltungen bilden in Kunst und Pädagogik (23. Februar 2019) den Workshop Die Perspektive der Migration als pädagogische Haltung an. Im Anschluss an die Tagung erschien: Schnurr, Dengel, Hagenberg, Kelch 2021.
[2] ↑ »Was bedeutet es heute, mutig zu sein? Welche Themen sind uns wichtig? So wichtig, dass wir für sie einstehen oder vielleicht sogar protestieren würden? Unter dem Thema ›Haltung zeigen‹ wurden Kurator*innen des Bode-Museums eingeladen, Werke aus den Museumssammlungen auszuwählen, die in besonderer Weise von Mut und couragierter Haltung erzählen« (lab bode in Kooperation mit der Athene-Grundschule 2019).
[3] ↑ Sabine Lenk und Wetzel beziehen sich vor allem auf »ein Verständnis von Haltung, wie es auch als ›Brückenkonzept‹ aus der therapeutischen Praxis für professionelles Lehrerhandeln geltend gemacht und vom Psychoanalytiker Ralf Zwiebel im Kontext einer ›professionellen Position‹diskutiert wurde (Zwiebel 2006: 87).« (Lenk/Wetzel 2014: o.S.) Ihre Position wurde von Carl-Peter Buschkühle (2014) als zu wenig kunstspezifisch kritisiert.
[4] ↑ Aufgrund dieser Interessen habe ich folgende pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Publikationen ausgelassen, die den Begriff ebenfalls behandeln: Menth 2022, Rotter/Schülke/Bressler 2019 und Fegter/Geipel/Horstbrink 2010, wobei der letztgenannte Artikel eine dekonstruktive und an Gerechtigkeit orientierte sozialpädagogische Haltung vorschlägt, die insbesondere im Hinblick „auf die konzeptionelle Gestaltung sozialarbeiterischer Angebote“ (ebd.: 242) Anschlüsse für kritische künstlerische Bildung zu bieten verspricht. Außerdem konnte nicht einbezogen werden, da noch nicht erschienen: Engel/Fuchs/Demmer/Wiezoreck i.E./2022.
[5] ↑ Ammo Recla und Cai Schmitz-Weicht haben 2015 eine »queerende Haltung« als Basis und Methode queerer Bildungsarbeit skizziert und dabei vor allem queer situiertes Wissen und eine diversity-sensible Einstellung hervorgehoben. Vgl. Recla/Schmitz-Weicht 2015: 285.
[6] ↑ Philipp Wüschner beschreibt die Aufladung des Begriffs mit »Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit, Redlichkeit – im Zweifelsfall sogar Männlichkeit als einem Wert an sich« (Wüschner 2016, zit. n. Hentschel 2021: 47).
[7] ↑ Klaus Wenzel hat kritisch u.a. von »Pamphlettheater« gesprochen (Wenzel 2018: 19, zit. n. Pinkert 2021: 34).
[8] ↑ Für den kulturwissenschaftlichen und kunstpädagogischen Kontext bedeutsam ist, dass Bourdieu durch die Verwendung des Begriffs durch den Kunstwissenschaftler Erwin Panofsky einen entscheidenden Anstoß erhielt: »Panofsky gebrauchte den Habitusbegriff in [seiner] Schrift [Gothic Architecture and Scholasticism, 1951], um die Disposition zu einer bestimmten Art der ästhetischen Gestaltung und des Erkennens zu kennzeichnen« (Barlösius 2011 [2006]: 54).
[9] ↑ Darin stimmt Kurbacher mit den weiter oben betrachteten Zeit- und Begriffsdiagnosen überein.
[10] ↑ Angesichts der geschilderten engen Verbindungen zwischen Haltung und Antirassismus muss die gut belegte Kritik an Kants Rassismus und Antisemitismus genannt werden. Vgl. Ruth Sonderegger (2019) und Simon Gikandi (2011). Mischa Brumlik hingegen ordnet Kant trotz »rassistische[r] Vorurteile« als »Gegner von Leibeigenschaft wie Sklaverei und schon früh einer der schärfsten Kritiker der kolonialen Expansion europäischer Staaten« ein (Brumlik 2020).
[11] ↑ Denn Kurbacher romantisiert nicht die Bedingungen pluraler Gesellschaften (vgl. Kurbacher 2021: 23).
[12] ↑ Ich übernehme die in der Broschüre als Selbstbezeichnung verwendete Schreibweise und setze sie weiter unten mit Autorinnen* fort.
[13] ↑ In Bezug auf die Dekonstruktion von Körpersprache vgl. Lüth 2017: 97ff.