Anna Kölle, Simone Schardt und Jorinde Splettstößer
Ausgehend von einem kritischen Umgang mit dem Verfahren des Mappings berichten Anna Kölle, Simone Schardt und Jorinde Splettstößer, wie sie eine Methode der kritischen Ortserkundung entwickelt haben, die es erlaubt, verschiedene Diskriminierungsebenen im urbanen Raum in den Blick zu nehmen. In einer ersten Bestandsaufnahme werden die Ergebnisse der Zusammenarbeit mit Schüler*innen und Erwachsenen aus dem Bereich der kulturellen Bildung reflektiert und mögliche Fragen zur Entwicklung eines Werkzeugkastens entworfen.
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Am Anfang unserer Arbeit stand eine Karte, die wiederum eine Karte zitiert: Eva Egermanns This is not a bedsheet (Egermann 2012: 12–14) greift eine Karte Chicagos der 1910er Jahre von Dr. Ben Reitman, einem US-amerikanischen Anarchisten auf. Es ist eine Karte, die offen lässt, was eigentlich gezeigt wird. Was ist ihr epistemischer Wert: die Positionsbestimmung eines Subjekts, eine Exit-Strategie, eine Situationsbestimmung, eine Lagebeziehung? Die Karte benennt marginalisierte Positionen, macht Machtverhältnisse sichtbar, stiftet Beziehungen und nimmt Kontextualisierungen vor. Sie birgt darin ein selbstermächtigendes Potential.
Das unterscheidet sie grundlegend von jenen Karten, die in einem Objektivierungsgestus verfasst sind, mit dem sich einem un-bekannten Terrain genähert wird: etwas wird aufgezeichnet, eingetragen, ein Territorium wird markiert. Der Blick auf eine Karte suggeriert Übersichtlichkeit, er kann ein Gefühl von Macht wecken, mitunter auch die Illusion, das Abgebildete zu beherrschen. (Rekacewicz 2006).
Diese Ambiguität im Lesen und Verfassen von Karten wurde für uns zum Anlass für die Entwicklung eines Werkzeugkastens zur kritischen Ortserkundung in einem Berliner Stadtteil. Dieser enthielt ein Set von Instrumenten und Methoden, die wir ausprobieren, aber unter Umständen auch wieder verwerfen oder in der Praxis weiter entwickeln wollten. Wir interessierten uns für eine Form des urbanen Mappings, das Ausgangspunkt für eine Neukartierung werden kann, mit der wir Machtverhältnisse und Diskriminierungsphänomene im öffentlichen Raum in den Blick nehmen können.
Karte und Zine als Werkzeug einer kritischen Ortserkundung
Grundlage unseres Werkzeugkastens war ein Kartenausschnitt der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen Berlin. Die Karte bildet die Gebäudemarkungen und Hausnummern ab, wahlweise in Grautönen bzw. in Farbe. Uns war diese ›entkommerzialisierte‹ Darstellung wichtig, auch wenn uns klar ist, dass sie Grundlage eines durchaus gewinnorientierten Immobilienmarktes werden kann. Die Karte war Ausgangspunkt einer doppelten Strategie: Sie bildet die Basis für eine situierte Bearbeitung durch die sich ein intuitives körperbasiertes Wissen (Awan 2017) einschreibt bzw. einzeichnet. Dadurch kann eine Realität hervorgebracht werden, die das, was für ›kartenrelevant‹ befunden wird, übersteigt. Damit wohnt dieser Karte etwas inne, was noch nicht ist, sondern erst wird – sie birgt darin ein utopisches Potential, das Potential einer Zukunft, die unserer Gegenwart bereits innewohnt und sich in der Karte zeigt: reduziert und kodifiziert. Karten sind somit – und das ist die zweite Strategieseite – immer auch Anlass für ein spekulatives Denken und nähern sich damit dem Diagramm als Mittel der Destabilisierung und Entdeckung.
Diese Ausgangskarte sollte mit verschiedenen Mitteln modifiziert werden, um andere Lesarten zu ermöglichen. Eine dieser Methoden bestand darin, mit Zines als Medium und Werkzeug zu arbeiten. Bereits in unserem Arbeitsprozess während der KontextSchule 2018–2020 haben wir festgestellt, dass Zines gleichermaßen als visual journal wie auch Reflexionsmedium gut funktionieren. Die Arbeit mit den kleinen, selbstgefalteten Heften bewirkte einen Austausch, der andere Bilder und Fragen zwischen uns aufwarf. Wenn wir Themen durch Zeichnungen oder Collagen verhandelten, veränderte das auch unser Sprechen und Nachdenken über diese.
Die Form des gefalteten und mehrseitigen Zines verkomplizierte die Stadtkarte, die uns als Ausgangspunkt für den in der Folge beschriebenen Workshop diente, bereits durch die fragmentierte Darstellung über mehrere Seiten. Einen weiteren Schritt hin zu einer geschärften Wahrnehmung des Stadtraums stellte das Zeichnen eines willkürlich festgelegten Kreises mithilfe eines Zirkels auf der Karte dar. Entlang dieses Kreises wollten wir den Stadtraum durchqueren, dabei Grenzen, Hindernisse und Barrieren, genauso wie unerwartete Wege und Räume markieren. Zusätzlich entwickelten wir weitere Fragen und Handlungsanweisungen, die entweder die Wahrnehmung sensibilisieren, Unsichtbares sichtbarer oder Diskriminierungen im Stadtraum erkennbar werden lassen, wie zum Beispiel: »Durchquerst du gerade öffentlichen oder privaten Raum? Für wen sind die Räume jeweils zugänglich? Notiere Dir eine Liste mit Orten, die von allen genutzt werden können und eine Liste mit Orten, die Privateigentum sind.«
Diese Methoden wollten wir in der Praxis mit anderen Menschen ausprobieren. Was passiert, wenn wir diesen Handlungsanweisungen folgen? Welche Ebenen von Diskriminierungen können damit untersucht werden? Gelingt es uns, die Verflechtungen, die Überschneidungen in den Blick zu nehmen? Wo lassen sich Spuren von zum Beispiel unsichtbarer Arbeit oder Sexismus ausmachen, welche Formen der Visualisierung finden wir dafür?
Case Studies
Im Rahmen des Festivals Platz für Diversität?! – Diskriminierungskritische Allianzen zwischen Kunst und Bildung, das im Mai 2021 in Berlin stattfand, luden wir zu einer kritischen Ortserkundung im Berliner Bezirk Schöneberg ein. In einem dreistündigen Workshop mit Schüler*innen eines Schöneberger Gymnasiums und einem zweiten mit Erwachsenen sollten unsere Fragen und Handlungsanweisungen erprobt werden.
Der Workshop hatte zwei Teile: In einer ersten Erkundungsrunde sollten die Teilnehmer*innen ein Gespür für die eigene Erfahrung im Stadtraum entwickeln und ihre Wahrnehmung schärfen. Dafür haben wir kleine Handlungsanweisungen vorbereitet, wie zum Beispiel »Nimm dir an drei Orten fünf Minuten Zeit, um ein kleines Detail zu zeichnen.« Oder: »Halte an verschiedenen Orten deines Weges einen Moment inne, nimm die Geräusche um dich herum wahr und zeichne sie in Form eines ›graphic score‹ in dein Zine «. In dieser Runde sollte auch das Entlanglaufen eines willkürlich festgelegten Kreisausschnitts erprobt werden. Entlang dieses Kreises durchquerten die Teilnehmer*innen den Stadtraum, markierten dabei Barrieren, aber auch unerwartete Situationen entlang ihres Weges.
In der zweiten Ortserkundung, die ebenfalls innerhalb des Lageplans stattfinden sollte, in der es den Teilnehmer*innen jedoch überlassen war, sich eine andere Route zu suchen, bezogen sich die Fragen auf verschiedene Diskriminierungskategorien: »Was könntest du an diesem Ort ohne Geld machen, was nicht?«. Oder: »Welchen sexistischen Markierungen, Symbolen und Wörtern begegnest Du auf deinem Weg?«. Diesen Ablauf wiederholten wir einen Tag später mit einer Gruppe Erwachsener.
Einen Raum lesen lernen
Die Resonanz der Schüler*innen war positiv; sie waren motiviert und überrascht über ihre Entdeckungen und Erlebnisse während ihrer jeweiligen Erkundungen. Die Zines wurden teils bemalt, teils mit Notizen versehen und teils die Karte markiert. Die Fragen stellten sich als hilfreich heraus, um den Blick der Jugendlichen für Überwachungen, Barrieren und Armut im öffentlichen Raum zu sensibilisieren und ein Gespräch darüber anzuregen.
Die Arbeit mit Zines, in diesem Fall ein gefaltetes Blatt Papier mit einem Kartenausschnitt, stellte sich als nützlich heraus. Das Zine stellt hier eine Einladung dar, ein eigenes Narrativ zu schaffen, der sensibleren Wahrnehmung eigener Beobachtungen und Gefühle nachzugehen. Es schafft einen etwas geschützeren, ›eigenen‹ und situierten Raum als beispielsweise ein einfacher Block oder eine Seite Papier. Das spezifische Potential dieser Methode – eine Gegenöffentlichkeit bilden, indem bestehende Zeichensysteme angeeignet, neue Bezugssysteme gestiftet und damit auch ein Stück weit Bedeutungsverschiebungen vorgenommen werden – gilt es noch zu bergen.
In der Reflexionsrunde mit den Erwachsenen, die überwiegend selber im Kontext kultureller Bildung und Vermittlung arbeiteten, zeigte sich vor allem, dass der Workshop als ein Ausgangspunkt für eine Diskussion um Diskriminierungsstrukturen geeignet sein kann. Der durch die Aufgaben und Fragestellungen angeregte Perspektivwechsel regte die Teilnehmer*innen zu neuen Fragen und Reflexionen hinsichtlich ihrer eigenen Positionierung an. Eine Teilnehmerin, die im Schulkontext im Elternrat gegen Diskriminierung aktiv ist, betonte die Wirksamkeit einer solchen kritischen Begehung für das Sichtbarmachen von Barrieren und Ausschlüssen in Schulen. Die Methode könne helfen, einen Raum dahingehend besser beurteilen zu können und stelle eine Möglichkeit dar, die oft als individuell erlebten Diskriminierungserfahrungen benennen und damit kollektivieren zu können. Die Anerkennung und Kollektivierung von Gefühlen und erlebten Barrieren könne ein erster Schritt zur Veränderung sein.
In den Workshops – sowohl mit den Jugendlichen als auch den Erwachsenen hat – sich gezeigt, dass eine solche Stadterkundung einen kritischen Blick auf Diskriminierungsformen und gesellschaftliche Ungleichheiten öffnen und somit einen produktiven Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit diesen Themen bilden kann. Fragen, die eine Weiterentwicklung dieses Werkzeug-kastens anregen können sind: Wie lässt sich dieses Instrumentarium an spezifische Räume und Kontexte anpassen? Was sind mögliche Schritte im Anschluss an ein solches Mapping? Wie lässt sich das situierte Wissen teilen, weiter bearbeiten und ergänzen? Wie sähe eine Karte aus, die Diskriminierungsebenen erfasst, welches eman-zipatorische Potential hält eine solche Karte bereit und wo könnte sie Anwendung finden?
»Diagramme initiieren ein relationales Denken, das zunächst nicht weiter qualifizierte Verbindungen und Kräftebeziehungen etabliert. Sie repräsentieren keine voneinander abgrenzbaren Körper, sondern lösen Vorstellungen von identifizierbaren Objekten auf« (Leeb 2012: 7).
Zines sind kleine, selbstgemachte, nichtkommerzielle und selbstpublizierte Magazine oder Hefte, die nicht viel mehr bedürfen als einer Idee, Papier, Stiften und einem Kopierer. Sie erscheinen in allen denkbaren Formen und werden normalerweise verschenkt, getauscht oder zu kleinem Preis verkauft. Generationen von jugendkulturellen, künstlerischen und sozialen Bewegungen haben Zines zur Gemeinschaftsbildung und Ermächtigung genutzt. Sie sind ein wichtiges soziales Kommunikationsmedium gerade für marginalisierte Gruppen, denn in Zines können Gedanken, Ideen und Informationen in einem geschützten und selbstbestimmten Raum ausgedrückt werden – ohne großen finanziellen Aufwand oder Vorwissen (vgl. Zobl 2011), (siehe Literatur).
Vgl. Dokumentation dieser Zusammenarbeit in der Online-Ausstellung KontextSchule 2014–2020 (siehe Literatur).
Vgl. Website Platz für Diversität!? (siehe Literatur).
Awan, Nishat (2017): Mapping otherwise: Imaging other possibilities and other futures. In: Schalk, Meike/Kristianssion, Thérèse/Mazé, Ramia (Hg.): Feminist Futures of Spatial Practice: Materialisms, Activisms, Dialogues, Pedagogies, Projections. Baunach: 33–41.
Egermann, Eva (2012): This is not a bedsheet. In: Crip Magazin #1. URL: https://cripmagazine.evaegermann.com [04.10.2022).
Leeb, Susanne (2012): Einleitung In: dies. (Hg.) Materialität der Diagramme, Berlin.
Rekacewicz, Philippe (2006): Der Kartograf und seine Welten. In: Le Monde diplomatique vom 15.09.2006.
Website Platz Für Diversität?! – Festival für diskriminierungskritische Allianzen zwischen Kunst und Bildung. URL: www.platzfuerdiversitaet.org [16.11.2022].
(Online-Ausstellung KontextSchule 2014–2020). URL: https://heyzine.com/flip-book/7aebd3ca12.html [16.11.2022].
Zobl, Elke (2011): A kind of punk rock ›teaching machine‹ – Queer-feministische Zines im Kunstunterricht. In: Art Education Research 3.