Katie Lee Dunbar, Hagar Ophir und Janice Heinrich
Für dieses Gespräch setzten sich Katie Lee Dunbar, Hagar Ophir und Janice Heinrich zusammen, um über Toolkit (»Werkzeugset«) und Methoden des antidiskriminatorischen Lernens und Lehrens angesichts infrastruktureller Herausforderungen zu sprechen. Sie reflektierten über ihre eigenen Erfahrungen bei der Erstellung eines Toolkits als Teil ihres mitkollektiv-Projekts, darüber, wie es ist, im Bereich Kunst und Bildung zu arbeiten und über ihre Hoffnungen für die Zukunft.
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Katie Lee Dunbar ist queerfeministische*r Performer*in und Pädagog*in und lebt in Berlin. Katie ist in der Antidiskriminierungs-Ausbildung tätig und integriert dabei kreative Methoden wie die Performancekunst. Katie ist Teil des mitkollektiv und anderen Kollektiven und Projekten sowie ArtEd.
Hagar Ophir Künstlerin, deren auf Forschung und Zeit basierte Projekte Geschichte(n), Körperbewegungen und Objekte miteinander verbinden. Ihre Arbeit ist oftmals kollaborativ und bezieht ihre Erfahrung und Ausbildung als Tänzerin, Kostümdesignerin und Historikerin mit ein. Im Moment konzentriert sich Hagar auf ihre kommende Solo-Ausstellung Bound With the Living im Soma Art Space Berlin.
Janice Heinrich studiert Anglistik und Gender Studies in Berlin und arbeitet nebenbei bei einem intersektionalen, Black-owned Magazin. Janice möchte das Schreiben nutzen, um sich kreativ auszudrücken und etwas an die Gemeinschaft zurückzugeben.
Was ist mitkollektiv?
Katie: Wir sind eine Gruppe von Künstler*innen und Pädagog*innen, die mit einem intersektionalen und antirassistischen Blickwinkel arbeiten, um traditionelle Bildungsmodelle aufzubrechen und in sie einzugreifen. Unsere Perspektiven sind geprägt von den Affinitäten und Erfahrungen unserer Gruppe: BI_PoC, queer, nicht-binär, migrantisch und unterschiedlichen Klassen- und Geschlechtsidentitäten zugehörig.
Die Gründungsmitglieder von mitkollektiv waren Katie Lee Dunbar (Leitung), Hagar Ophir (Co-Leitung), Karen Michelsen Castañón (Co-Leitung), May Lee, Lisa Ribler und Maciré Schuster. Wir haben als Kollektiv viele Dinge, wie z. B. Workshops für Kinder und Lehrpersonen ins Leben gerufen und begannen unsere Arbeit direkt mit einem einjährigen, von Juli 2020 bis Juli 2021, andauernden Projekt: Reimagine Jetzt! Wir arbeiten weiterhin aktiv zusammen in der Lehrer*innenfortbildung, in Schulprojekten und anderen Projekten, die sich ergeben.
Erzählt uns ein wenig über euer Toolkit.
Katie: Ein wichtiger Teil des Projekts war das mitkollektiv-Toolkit. Unser Ziel war es, einen Ort zu schaffen, an dem Lehrer*innen und Künstler*innen, die im Bildungsbereich tätig sind, Ressourcen austauschen und abrufen und an dem sie kritische Lernmaterialien zu verschiedenen Themen finden können. Wir wollen ein fortlaufendes, sich entwickelndes Netzwerk schaffen, das online zugänglich ist, aber auch darüber nachdenkt, wie wir im wirklichen Leben füreinander da sind. Welche spezifische Unterstützung benötigen zum Beispiel Kunstpädagog*innen, die in diesem Kontext arbeiten? Das Toolkit sowie die Dokumente und Stimmen aller, die an der Erstellung beteiligt waren, kann man* online finden. Letztlich geht es wirklich darum, Gemeinschaft miteinander zu teilen.
Was kann ein Toolkit eurer Meinung nach sein?
Katie: Ein Toolkit kann ein Unterrichtsplan, ein Wortschatz, ein Glossar, eine Sammlung von Methoden sein... Der Begriff wird für viele verschiedene Dinge verwendet. Das mitkollektiv-Toolkit beinhaltet all diese Ebenen, aber in dessen Mittelpunkt stehen das Netzwerk, der Dialog und die Workshops mit den beteiligten Menschen.
Was erhofft ihr euch von der Arbeit im mitkollektiv?
Hagar: Die Idee hinter unserem Projekt ist es, für diejenigen, die in Schulen arbeiten und nach Wegen suchen, mehr als nur den Lehrplan zu ändern, Gemeinschaft, Werkzeuge und Unterstützung zu bieten und damit gleichzeitig auch einen Raum für uns selbst zu gestalten. Wir möchten Bildungsarbeiter*innen und Student*innen dazu einzuladen, ihre eigenen Erfahrungen in den Lernprozess einzubringen und Raum für Selbstreflexion zu schaffen. Aus diesem Grund haben wir neben unserer Präsenz in den Schulen (soweit dies in der Zeit der Pandemie möglich war und ist) und den Lehrer*innen-Workshops auch das Online-Toolkit entwickelt. Es basiert auf der von uns und anderen, wie zum Beispiel Tivolotte Mädchenclub, Romnja-Power oder i-Päd Berlin, bereits geleisteten Arbeit und auf unseren Erfahrungen. Wir wollten unsere Instrumente und Erfahrungen mit anderen teilen, damit sie daraus lernen und sie nutzen können.
Katie: Ich denke, dass oftmals Ressourcen geschaffen oder Projekte durchgeführt werden, die dann für sich stehen. Was oft passiert, wenn die Förderungen zu Ende sind, ist, dass die Projekte sehr schnell ihre Nachhaltigkeit verlieren. Eine Hoffnung des mitkollektiv war es, dem Problem Rechnung zu tragen, dass so viele Initiativen bereits isoliert existieren, und stattdessen Künstler*innen und Pädagog*innen zusammenzubringen. Es geht nicht unbedingt darum, Methoden neu zu erfinden, sondern auch darum, Methoden zu finden, die bereits existieren, und sie den Menschen zugänglich zu machen. Es gibt so viele großartige Initiativen in Berlin, die wir verlinken und auf welche wir verweisen, so viele Ressourcen, die bereits vorhanden sind.
Ich denke, viele Künstler*innen und Lehrer*innen haben ihre eigenen kreativen und Antidiskriminierungs-Methoden in der Schularbeit. Und ich denke, dass es hilfreich ist, wenn es etwas gibt, das man* sich ansehen oder darauf verweisen kann, oder eine Person, mit der man* Dinge besprechen kann. Oft ist es schwer herauszufinden, welche Werkzeuge benötigt werden, um ein Problem anzugehen. Deshalb ist mitkollektiv so sehr auf ein Netzwerk ausgerichtet. Wenn du eine Frage hast, ist das ein guter Ausgangspunkt. Irgendwo hat vielleicht jemand eine Antwort, einen Vorschlag oder eine weitere Frage. Es geht um den Dialog.
Hagar: Das Wissen, ein Netzwerk und Menschen zu haben, die anti-diskriminierende Arbeit durch Kunst und Bildung teilen und nicht alleine mit unseren Problemen zu sein, gibt uns Kraft. Ich glaube, wir müssen Kunst nicht nur als Methode und Bildung, sondern als eine Lernstrategie betrachten. Man* lernt nicht, wie man* zeichnet oder performt, ohne etwas zu kreieren oder vorzuführen. Dabei geht es uns aber nicht darum, die Schüler*innen zu herausragenden Künstler*innen oder Schauspieler*innen zu machen, sondern ihnen Know-how zu vermitteln, das sie im Schulalltag benutzen können. Wir betrachten Kunst als Werkzeug, das es uns erlaubt, das ›Wie‹ zu lernen (schreiben, zeichnen, schauspielern etc.) und nicht das ›Was‹ (Fakten, Daten, Ideologien). Es geht darum künstlerische Fähigkeiten als eine tägliche Praxis nutzen zu können und den Schüler*innen dabei zu helfen, ihre Identität und politische Persona zu formen.
Durch Unsere Erfahrungen und die Lebenserfahrungen der Schüler*innen und Lehrer*innen in das Bildungssystem einzubringen, ist ein wichtiger Teil unseres Bestrebens.
Könnt ihr uns mehr über die Herausforderungen erzählen, mit denen ihr konfrontiert seid?
Katie: Viele der Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, sind durch strukturelle Rahmenbedingungen bedingt. Es gibt zum Beispiel keinen Lohn dafür, dass man* sich Zeit nimmt für etwas, das bereits online ist, oder dass man* weiter forscht, Netzwerke aufbaut und sich um die Gemeinschaft kümmert. Stattdessen wird man* bei vielen Projekten nur für die Zeit bezahlt, die man* in einem Raum mit den Leuten verbringt, mit denen man* zusammenarbeitet. Um nachhaltig zu arbeiten, müssen Zeit, Energie, Ressourcen und auch finanzielle Mittel in Fragen investiert werden wie: Welches sind die Systeme der Zusammenarbeit? Welche Systeme gibt es, um Materialien zu aktualisieren und zu verbinden sowie Menschen zusammenzubringen und Netzwerke aufzubauen?
Meiner Meinung nach ist die Schaffung kollektiver Unterstützungsstrukturen, die sich mit machtkritischen Methoden befassen, nichts, was das derzeitige System unterstützen möchte, weshalb kaum Zeit, Geld und Ressourcen dafür aufgewendet werden. Die Herausforderung besteht also darin, gesündere Strukturen für die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zu schaffen und Räume für Lernen und Wachstum auf nachhaltige Weise zu erhalten, ohne von einer Projektfinanzierung zur nächsten rennen zu müssen.
Hagar: Man* hat immer das Gefühl, dass die Finanzierung endet, wenn das Spektakel vorbei ist. Wenn man* danach noch den Willen und die Kapazität hat, weiterzumachen, kann man* das Projekt immer noch auf das nächste Level bringen, aber wenn man* das nicht tut, verschwindet es mit der Zeit. Später fragt man* sich: Welche Wirkung hatte es? Wer hat es gesehen? Wer war daran beteiligt? Deshalb ist es für uns so wichtig, mitkollektiv durch das Pflegen von Netzwerken und unserer Online-Ressourcen am Leben zu erhalten.
Katie: Ich glaube, das ist ein Grund, weshalb Online-Präsenz und Verweise auf die gegenseitige Arbeit so wichtig sind. Online-Verknüpfungen sind ein Weg, um eine gewisse Langlebigkeit zu erzielen. Selbst wenn es nicht dasselbe ist, wie mit Leuten in einem Raum zu sitzen, so ist es doch ein Bezugspunkt.
Welche Möglichkeiten könnt ihr euch vorstellen, um diese Herausforderungen zu meistern?
Hagar: Ich denke, um für den gesamten Prozess eines Projekts bezahlt zu werden und weiterhin Methoden sammeln und benutzen zu können, wäre es hilfreich, langfristige Partnerschaften mit Schulen einzugehen und sich langfristig zu engagieren. Andernfalls ist es schwierig, Kontinuität zu wahren.
Dann gibt es natürlich die Hoffnung auf größere, systematische Veränderungen, bei denen diese Art von Projekten nicht nur für ein paar Jahre finanziert werden und sich dann das politische Umfeld ändert und das Geld woanders hingeht. Wir brauchen eine Art von Engagement, das sich in Veränderungen innerhalb des Schulsystems, in der Art und Weise, wie wir Schule denken, und in der Sache, der sie dient, niederschlägt. Solange Schulen dazu da sind, gute Bürger*innen für den Nationalstaat heranzuziehen, hat sie ihre Grenzen, auch wenn es um Antidiskriminierungsarbeit geht, die in der Schule angeboten werden kann.
Katie: Ich denke, die einfachste Lösung wäre definitiv ein jährliches Grundeinkommen für alle Menschen. Für mich als Kunst-pädagog*in gäbe es mehr Freiheit und die Möglichkeit, nachhaltig zu arbeiten, ohne ein Finanzierungsziel und außerhalb eines Finanzierungszeitraums. Ich könnte zum Beispiel fünf Jahre oder länger mit einer Gruppe oder einer Schule arbeiten, ohne den Druck, ein Ergebnis präsentieren zu müssen. Wie wäre es, wenn mitkollektiv fünf Personen hätte, die sechs Jahre lang an einer Schule mit den Lehrer*innen zusammenarbeiten, jedes Jahr mehrere Lehrer*innenfortbildungen durchführen und gemeinsam nachhaltig wachsen und sich entwickeln? Dies könnte durch ein Engagement der Schule, des Senats, des mitkollektiv und ein jährliches Grunde-inkommen für alle möglich sein.
Hagar: Ich denke auch, dass wir bundesweit die Hälfte der Dinge, die Schüler*innen lernen müssen, streichen sollten. Ich würde sagen, weniger Napoleon, mehr Werkzeuge an die Hand: Werkzeuge für die Kunst und für das Lernen, Werkzeuge, um als Mensch unterdrückende Systeme zu überleben.
Katie: Du sprichst einen sehr wichtigen Punkt an, nämlich die Frage, was die Ziele des Lehrplans sind. Denn wenn das Ziel des Lehrplans darin besteht, europäische Geschichte aus einer kolonialen Perspektive zu lernen und die Schüler*innen alle Daten in einem Test wiederholen zu lassen, dann kostet das viel Zeit und Energie. Was beim Lernen über Geschichte passieren sollte, ist, dass wir verschiedene Arten des Geschichtenerzählens, verschiedene Geschichten und Perspektiven aus unterschiedlichen Kontexten kennen lernen. Nur dann lernen wir zuzuhören, zu reflektieren, zu vergleichen, zu kontrastieren oder uns in andere hineinzuversetzen. Diese Fähigkeiten, zu lernen und zuzuhören, sind viel wichtiger als das Auswendiglernen einer Liste von Fakten.
Von unseren ArtEd Partner*innen in Island habe ich erfahren, dass sie diese sogenannten Pillars of Education (Bildungssäulen) haben, mit denen sie darüber nachdenken, welche Aspekte wir unseren jungen Menschen auf dem Weg zum Erwachsensein mit auf den Weg geben wollen. Diese Säulen sind: ›Gesundheit und Wohl-befinden‹, ›Literalität‹, ›Nachhaltigkeit‹, ›Demokratie und Menschenrechte‹, ›Gleichberechtigung‹ und ›Kreativität‹. Dabei geht es vor allem um die Art und Weise, wie man* denkt, reflektiert und miteinander umgeht. Das Wohlbefinden und die Kreativität junger Menschen wird als nationales Bildungsziel gesetzt, anstatt eines spezifisch akademischen Ziels. Es favorisiert eine Heran-gehensweise ans Lernen, die die Schüler*innen zentriert und die Person und Methode gegenüber den Leistungen und Noten bevorzugt.
Hagar: Dann wäre auch die Art und Weise der Antidiskriminierungsarbeit in den Schulen eine andere, weil sie bereits im System verankert wäre; wir müssten nicht unbedingt Alternativen schaffen, sondern dafür sorgen, dass das Vorhandene erhalten bleibt.
Katie: Die Methode, um diese Arbeit sichtbar zu machen, ist es, all die unterschiedliche Arbeit zu erkennen, die dahinter steckt, Teil einer Institution zu sein. Die Methode des Lernens umfasst das Lernen und Verlernen. Die Methode der Antidiskriminierung, beinhaltet die Art wie man* zuhört und sich daraufhin verändert, aber die Frage ist, wie man* verändert, was verändert werden sollte, wenn die Perspektive oder die Dokumentation dazu nicht vorhanden ist? Es liegt noch viel Arbeit vor uns, um mündliche Überlieferungen und Geschichten, die bisher ausgelöscht wurden, zu sammeln und zu dokumentieren, damit sie für die Allgemeinheit zugänglich sind und reflektiert werden können. Wir müssen nicht zwingend den Lehrplan neu schreiben, aber wir müssen Zugang zu verschiedenen Geschichten schaffen und diese erzählen. Es gibt mittlerweile eine Menge fantastischer Bücher (siehe Literatur), die solche Geschichten erzählen und von denen wir mehr und mehr schreiben müssen, während wir unser Denken über Bildung verändern.
Hagar: Ich stimme dem zu, dass wir etwas schaffen, aber gleichzeitig auch das Vorhandene nutzen und dabei lernen sollten, es wiederzuverwenden.
Katie: Ja, ich denke, der Prozess des Umschreibens ist etwas, das ständig passiert, und das ist eine positive Sache. Zum Beispiel könnte man* sagen: Ich möchte diese Geschichte aus meiner Perspektive umschreiben, oder es fehlt etwas, also werde ich es hinzufügen. Meine Hoffnung ist, dass wir relevantes Material immer wieder um- und neu schreiben und dass wir immer in der Lage sein werden, es zu analysieren und kritisch zu betrachten.
Hagar: Und es geht nicht nur darum, weiter zu schreiben und umzuschreiben, sondern auch zu produzieren, aufzuführen und zu kreieren. Auch hier sind kreative Prozesse eines der Werkzeuge, um zu lernen und zu verändern und Systeme zu schaffen, die einen Ort der Fürsorge darstellen und hoffentlich dazu beitragen, eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen.
Wie verhalten sich taktische und strategische Methoden zueinander?
Katie: Taktische Methoden sind unmittelbare Eingriffe oder Dinge, die jemand oder eine Gruppe von Menschen vornehmen kann, um eine direkte Wirkung zu erzielen. Strategische Methoden bein-halten zum Beispiel, sich für bildungsrelevante oder anti-diskriminatorische Änderung der Politik einzusetzen. Diese haben keine unmittelbare Auswirkung, aber tragen hoffentlich zu langfristigen Veränderungen des Systems bei.
Hier treffen, denke ich, Hoffnungen und Herausforderungen aufeinander. Vieles von dem, was geschaffen wird, sind taktische Interventionen. So ist zum Beispiel ein Projekt, das in einer Schule durchgeführt wird und sich mit verschiedenen Arten der Entscheidungsfindung befasst – wie etwa horizontale Entscheidungs-findungsmethoden oder kreative Methoden, die sich mit unerzählten Geschichten befassen – ein taktischer Eingriff in ein Schulsystem. Man* kann noch so viele Hoffnungen hegen, wie man* das Klassenzimmer zum Besseren verändern kann, aber solange es keine infrastrukturellen Veränderungen in der Schule und im Schulsystem gibt, ist es wirklich schwierig, diese Veränderungen durchzuführen. Im Moment gibt es keinen Raum und keine Flexi-bilität im Lehrplan. Es gibt nicht das Minimum von einem freien Tag pro Woche, den man* als Lehrer*in bräuchte, um zu reflektieren, mit den Kolleg*innen zu sprechen, zu planen und sich fortzubilden. Dies ist ein notwendiger struktureller Wandel, der nur durch strategische Anstrengung erreicht werden kann.
Es ist wichtig gleichzeitig taktisch und strategisch zu arbeiten. Nehmen wir zum Beispiel das Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland, das besagt, dass niemand aufgrund von Fähig-keiten, Race, Geschlecht oder Sexualität diskriminiert werden darf. Das Gesetz selbst, die Infrastruktur, ist vorhanden. Da es aber keine wirklich brauchbaren Strukturen gibt, um Diskriminierungsbeschwerden vorzubringen, ist das Gesetz so lange unwirksam, bis diese Strukturen vorhanden sind. KiDs – Kinder vor Diskriminierung schützen! gehört zu denjenigen, die dies aktiv ändern wollen. Sie arbeiten sowohl taktisch als auch strategisch. Die taktische Antwort in diesem Beispiel besteht darin, dass wir uns fragen, welche Unterstützungsstrukturen es im Zusammenhang mit diskriminierenden Handlungen gibt, die nicht gesetzlich geregelt werden müssen. Die Sache ist, dass viele Menschen das Problem zwar sehen, es allerdings noch viel mehr Menschen sehen müssen, bevor sie anerkennen, dass es in Angriff genommen werden muss.
Hagar: Ein weiterer Punkt der strategischen und taktischen Arbeit ist die Schaffung von Räumen, in denen wir zusammenarbeiten können und in denen wir diese Wege als Möglichkeiten präsentieren können.
Katie: Die Diskussion darüber, wie man* strategisch und taktisch arbeiten kann, war ein wichtiger Teil unserer Arbeit im mitkollektiv. Unser Ziel ist es, horizontal, kollektiv und im Konsens zu arbeiten, und zwar auf eine klare, effektive und fürsorgliche Weise. Effektivität und Fürsorge sind sehr wichtig, um eine kapitalistische Gesellschaft, in der man* Fristen einhalten muss, zu überleben. Wir wollen dabei so achtsam wie möglich sein und auch Raum haben, um nicht nur auf Ziele hinzuarbeiten.
Hagar: Stell dir vor, wir würden in eine Kiste gesteckt, in der wir uns bewegen und sie so lange veränderten, bis jede*r versorgt wäre und wir einen Weg der Zusammenarbeit gefunden hätten, bei dem wir alle unsere Erfahrungen einbringen könnten. Wir wären nicht von unserer Persönlichkeit und unseren Lebenserfahrungen getrennt, sie wären alle in der Art und Weise enthalten, wie wir zusammenarbeiteten.
Lasst uns mehr über den weiteren Kontext der Arbeit sprechen. Könnt ihr uns ArtEd vorstellen,
ein weiteres Projekt, an dem ihr arbeitet?
Katie: ArtEd ist eine europaweite Initiative, die zusammen mit sieben Partner*innen geleitet wird. Cora Guddat und ich sind die Leiter*innen der Berliner Partner*innen und es gibt auch Partner*innen in England, Italien, Griechenland, Österreich und Island. Wir arbeiten gemeinsam an der Erstellung von Leitfäden für Kreativität und Unterricht – insbesondere für Lehrer*innen und Eltern – die in den Schulalltag und das Lernen integriert werden können. Wir erhoffen uns, europaweit strukturelle Wirkung zu erzielen und die Bedeutung von Kreativität für das Wohlbefinden und Lernen aufzuzeigen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass das Projekt während der Covid-19-Pandemie anlief und wir uns bisher immer noch nicht persönlich getroffen haben. Es ist unglaublich, wie wir das durchgestanden und all diese Dinge bis jetzt online erstellt haben. Im April 2022 treffen wir uns hoffentlich endlich persönlich und setzen die Arbeit fort.
Was erhofft ihr euch für die Zukunft?
Hagar: Dass wir ein Zuhause für unser Toolkit und die Projekte finden, an denen wir und die Menschen um uns herum beteiligt sind. Und dass diese Projekte so fortbestehen, dass sie nicht einfach weggeworfen und neu erstellt werden, sondern dass sie für Menschen da sind, um sie zu benutzen, wiederzuverwenden und umzuschreiben.
Katie: Meine Hoffnungen sind Ruhe, Stabilität und Flexibilität. Weltweit, in meiner näheren Umgebung und auch, wenn wir über Bildung sprechen. Dass es eine Art Fundament für ein Netzwerk gibt, in dem wir uns austauschen und aufeinander verlassen können. Aus dieser Stabilität erwächst die Fähigkeit, sich auszuruhen. Und auch die Hoffnung, bei allem, was gerade passiert, präsent zu sein.
Janice: Ich würde mich definitiv der Ruhe anschließen. Einfach die Fähigkeit, sich von Zeit zu Zeit von Dingen zurückzuziehen, damit wir mit mehr Energie und Motivation an Projekte herangehen können. Bei all den Dingen, die ich gerne tue, habe ich das Gefühl, dass ich sie in gewisser Weise ausschlachten und wirklich gut darin sein muss, aber ich würde gerne etwas nur zum Spaß tun, für mich selbst.
Hagar: Das ist der Punkt, an dem Stabilität ins Spiel kommt, weil sie es uns erlauben würde, die Dinge mehr aufzuwirbeln.
Katie: Yeah, zuallererst müssen wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen. Und zum Schluss steht die Freude als Hoffnung für die Zukunft.
Das Projekt zielt darauf ab, die positive psychische Gesundheit junger Menschen zu verbessern, indem es ihnen die Möglichkeit gibt, in Schulen kreativ mit Künstler*innen zu arbeiten. Das dreijährige Projekt stützt sich auf die Erfahrungen und Wahrnehmungen einer Reihe von Zielgruppen, darunter Künstler*innen, Lehrer*innen, junge Menschen, Eltern und Betreuer*innen sowie politische Entscheidungsträger*innen (siehe Literatur).
Vgl. mitkollektiv in diesem Band, S. 81ff.
Vgl. Website mitkollektiv (Toolkit) (siehe Literatur).
Vgl. Website der Fachstelle Kinderwelten (siehe Literatur).
Es ist wichtig hinzuzufügen, dass ich Kreativität hier nicht als Resultat des Lernens oder von etwas, das ein bestimmtes Aussehen annehmen muss, sehe. Das würde den Mustern des Kolo-nialismus oder des Neoliberalismus folgen. Wir benutzen das Wort ›Kreativität‹ hier als etwas, das jede Person in sich trägt und sich in unterschiedlichem Denken und Handeln manifestieren kann, zum Beispiel dass man* etwas in einer ausgedachten anstatt einer vorgeschriebenen Art und
Weise macht.
Website mitkollektiv. URL: https://mitkollektiv.de/ [04.11.2022].
Website mitkollektiv (Toolkit). URL: https://mitkollektiv.de/en/
reimagine-now/#toolkit [04.11.2022].
Website ArtEd. URL: https://www.arted-eu.org/ [04.11.2022].
Website Kinderwelten. URL: https://kids.kinderwelten.net/de/ [04.11.2022].
Website Pillars of Education Iceland: URL: http://chrodis.eu/good-
practice/icelandic-national-curriculum [04.11.2022].
Website Tivolotte Mädchenclub: URL: http://tivolotte.de/ [04.11.2022].
Website Romnja-Power. URL: https://www.romnja-power.de [04.11.2022].
Website von i-Päd Berlin. URL: https://i-paed-berlin.de [04.11.2022].
Lee, Mackenzi (2019): Kick-Ass Women. 52 wahre Heldinnen. Frankfurt.
Love, Jessica (2020): Julian ist eine Meerjungfrau. München.
Kalinski, Stephan/Botterill, Iain (2019): Schneewittchen. Neu erzählt. London.