Saphira Lopes, Camilla Goecke und Tuğba Tüfekci im Gespräch mit Saraya Gomis
Saphira Lopes, Camilla Goecke und Tuğba Tüfekci haben sich als kleines Netzwerk von BI_PoC-Lehrpersonen zusammengefunden, weil die Notwendigkeit und der Bedarf groß sind, sich zu connecten und zu unterstützen. Im Gespräch mit Saraya Gomis tauschten sie sich anlässlich des Book-Launch über die Institutionen und das System Schule aus, über Erfahrungen, die sie in diesem Raum machen, über emotionale Mehrarbeit, die sie leisten sowie über die Struggles und alle weiteren Konflikte, die sie durchleben. Gleichzeitig war es dem Netzwerk ein Anliegen, auch positive Perspektiven zu teilen und über gemeinsame und unterschiedliche Handlungsstrategien sowie Selfcare zu sprechen. Der vorliegende Text ist eine Transkription des Gesprächs, welche von Saphira Lopes redaktionell bearbeitet wurde.
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Am 09.12.2023 kamen wir zusammen, um uns im Rahmen des Launch der Print- und Online-Publikation re-visionen n°1 und n°2 der KontextSchule über die Institution und das System Schule auszutauschen. Wir sprachen über die Erfahrungen, die wir in diesen Räumen machen, über emotionale Mehrarbeit, die wir leisten, über die Herausforderungen und Konflikte, die wir durchleben, sowie unterschiedliche Handlungsstrategien, die uns im beruflichen Alltag weiterhelfen.
Saphira: Wir sind heute zusammengekommen, um uns über das System Schule auszutauschen. Im Jahr 2022 haben wir uns als kleines Netzwerk von BI_PoC-Lehrpersonen zusammengeschlossen, da wir eine hohe Notwendigkeit darin sehen, uns miteinander zu verbinden und gegenseitig zu unterstützen. Wir freuen uns sehr, dass unser heutiges Gespräch um die Perspektiven von Saraya Gomis erweitert wird. Könntest du dich kurz vorstellen, Saraya, und uns schildern, was der Titel Allein im System mit dir macht?
Saraya: Mein Name ist Saraya Gomis und ich habe viel in Schulen gearbeitet und werde das hoffentlich zukünftig auch wieder tun. Ich habe auch Ausflüge in andere Bereiche gemacht, vor allem in die Verwaltung und mich dort mit der Institution Schule, Antidiskriminierungsarbeit und den Möglichkeiten und Grenzen innerhalb dieser Räume beschäftigt.
Bei dem Titel muss ich zum einen an persönliche Erfahrungen denken. Zum anderen fasse ich dabei ein größeres Bild ins Auge: Was bedeutet das eigentlich für uns als Lehrende an Schulen? Ich denke dabei auch an euer Netzwerk und stelle mir die Frage, wie viele dieser informellen Gruppen denn bereits existieren und wofür diese Ausdruck sind. Natürlich gewinnt man durch solche selbstverwalteten Zusammenschlüsse etwas. Es bedeutet wiederum auch, dass darin Zeit und eigene Ressourcen hineinfließen.
Saphira: Könntet ihr, Tuğba und Camilla, euch ebenfalls kurz vorstellen und uns erzählen, warum ihr heute hier seid?
Tuğba: Ich heiße Tuğba und bin Lehrkraft an einer Grundschule. Mir ist das heutige Gespräch sehr wichtig. Daher bin ich hier, um andere Menschen zu sensibilisieren, möglicherweise mehr Verbündete zu finden und mich ein bisschen weniger alleine im System zu fühlen.
Camilla: Ich bin Camilla und arbeite seit zwei Jahren als Lehrperson. Seit dem Sommer 2023 unterrichte ich an einem Gymnasium. Wie Tuğba eben erwähnte, ist auch für mich dieser Moment des Zusammenkommens, sich auszutauschen und unsere Erfahrungen zu teilen, insbesondere vor einem Publikum, sehr wichtig. Somit bekommen wir auch eine Sichtbarkeit. Denn das passiert sehr selten oder gar nicht.
Und nun zu dir, Saphira – wer bist du, und könntest du mit uns teilen, wie wir zueinandergefunden haben?
Saphira: Mein Name ist Saphira und ich habe an mehreren Schulen als Lehrperson gearbeitet. Derzeit habe ich aber dem Schulsystem vorerst den Rücken gekehrt.
Tuğba und ich haben uns an einer Grundschule kennengelernt und wir hatten sehr schnell einen Draht zueinander. Durch ein Gespräch, das ich mit einer Schülerin aus Tuğbas Klasse hatte, wurden wir noch näher zusammengebracht. Es war eine sehr schöne, aber gleichzeitig auch sehr traurige Unterhaltung, da wir uns über selbst erlebte rassistische Diskriminierung austauschten, die wir beide in unserem jeweiligen Alltag machen. Daraufhin hat mich Tuğba auf das besagte Gespräch zwischen ihrer Schülerin und mir angesprochen. Wir sprachen ebenfalls über unsere Erfahrungen im Schulalltag und ab diesem Moment war uns beiden klar: Das ist eine Verbündete im Kollegium. So sind wir bis heute eng in Kontakt geblieben und Freundinnen geworden.
Im Dezember 2022 hat Danja Erni uns mit Camilla zusammengeführt. Camilla war auf der Suche nach anderen BI_PoC-Lehrpersonen, mit denen sie* sich austauschen konnte. Im Zuge unseres ersten Treffens zu dritt ist schließlich nicht nur die Idee für das BI_PoC-Netzwerk für schulisches Personal, sondern auch eine neue Freundschaft entstanden.
Camilla befand sich damals mitten im Referendariat, womit auch das passende Stichwort für unseren ersten Themenblock fällt, und zwar die Lehrkräfteausbildung. Diese setzt sich zusammen aus dem Lehramtsstudium und dem Referendariat. Ich würde gerne mit euch darüber sprechen, ob ihr rückblickend das Studium und/oder das Referendariat als gute Vorbereitung auf die Arbeit an Schulen empfunden habt. Was sind eure Gedanken hierzu?
Camilla: Nein, hat es nicht. Ich bin noch Anfänger*in und merke, dass jeden Tag, jede Woche, etwas Neues passiert, was mich auf emotionaler Ebene sehr trifft. Daher – nein, ich fühle mich absolut nicht vorbereitet. Ich sehe eine ganz große Lücke zwischen Theorie und Praxis, da viele relevante Inhalte im Studium nicht gelehrt werden. Das ist mein erster Gedanke, den ich zum Lehramtsstudium habe. Wie steht ihr zu der Frage?
Saraya: Meine Antwort darauf ist Ja und Nein. Ich glaube in bestimmten Punkten hatte ich einfach Glück. Das kann für manche, die später die Lehrkräfteausbildung angefangen haben, ganz anders ausgesehen haben. Dies liegt daran, dass zu dieser Zeit zufällig ein paar Professor*innen an meiner Uni waren, durch die ich mich sehr gut vorbereitet fühlte, ich mich umfangreich und breit wissenschaftlich bilden konnte, um eine Basis für meine spätere Praxis zu erlangen und ich manche Seminare über einen längeren Zeitraum absolvieren konnte. So wurde mir eine vertiefte Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten ermöglicht. Neben vielen Dingen, die mich im akademischen Kontext eingeschüchtert haben, gab es eben auch Orte, an denen ich hilfreiche Dinge finden konnte, etwa in der pädagogischen Psychologie oder in den Politikwissenschaften. Das war ziemlich toll und hat mir bestimmte Tools an die Hand gegeben, die mich zwar nicht direkt auf die Realität im Klassenzimmer vorbereiteten, aber mir dabei geholfen haben, mich weiterzuentwickeln.
Tuğba: Ich möchte zwei Punkte benennen: Zum einen hat mir im Referendariat der kritische Umgang mit dem verwendeten Lehrmaterial gefehlt. Dass man dafür sensibilisiert wird, wenn in diesem Material beispielsweise rassistische oder sexistische Inhalte reproduziert werden. Das würde uns als Lehrpersonen nicht nur entlasten, auch der Bildung der Kinder und Jugendlichen würden wir dadurch gerecht(er), indem ein Raum für machtkritische Momente eröffnet wird.
Mein zweiter Punkt ist die fehlende Unterstützung, die emotionalen Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und aufzufangen. Ich habe das Gefühl, in der Lehrkräfteausbildung wurde zu wenig besprochen, wie der Spagat zwischen meinem eigenen emotionalen Ballast und dem der Schüler*innen gelingen kann.
Saphira: Mir hat im Studium die Einnahme einer rassismuskritischen Perspektive komplett gefehlt. Ich hätte mir insbesondere in den Bildungswissenschaften gewünscht, dass überhaupt mal das Stichwort Rassismus fällt. Es ist inzwischen eine gewisse Sensibilität dafür vorhanden, dass es verschiedene Lebensrealitäten gibt, aber die explizite Thematisierung von Rassismus wird oftmals durch die Verwendung von Begriffen wie ›Diversität‹ und ›Vielfalt‹ verwässert. Als ich dann das erste Mal an einer Schule gearbeitet habe, hat mich das ziemlich erschlagen. Ich bin schon aufgrund meiner eigenen Lebensrealität in der Lage, eine rassismuskritische Brille aufzusetzen, jedoch wurde dies im Rahmen meines Studiums nicht als professionelle Kompetenz gelehrt. Diese Leerstelle war auch der Impuls für meine Masterarbeit (Lopes 2022).
Camilla: Willst du mit uns teilen, was du in deiner Masterarbeit dazu erarbeitet hast?
Saphira: In meiner Abschlussarbeit habe ich mich damit beschäftigt, inwiefern
rassistische Strukturen im Lehramtsstudium (re-)produziert werden und wie das
Lehramtsstudium einen Schutz- und Empowermentraum für rassifizierte Studierende
bieten kann. Dazu habe ich die Perspektiven von BI_PoC-Lehramtsstudierenden mithilfe einer Umfrage herangezogen. Ich habe außerdem erarbeitet, wie Rassismuskritik in der Lehrkräfteausbildung in Form eines verpflichtenden Moduls konkret verankert werden kann. Insbesondere Prof. Dr. Karim Fereidoonis Studie aus dem Jahr 2016 zu den Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrer*innen mit Migrationsgeschichte war der Impuls für meine Arbeit (vgl. Fereidooni 2016).
Lasst uns nun einen genaueren Blick auf die Institution Schule werfen. Wir starten mit einer (vermeintlich) einfachen Frage: Wie geht es euch derzeit an euren Schulen?
Camilla: Das ist eine große Frage. Ich glaube wir brauchen alle Urlaub! Und ich habe das Gefühl, es geht langsam wieder an meine Substanz. Ich bin jetzt seit dem letzten Sommer an meiner Schule; mit meinen Schüler*innen geht es mir eigentlich sehr gut und ich lerne meine Lerngruppen langsam besser kennen. Zum Stichwort Kollegium – ich arbeite seit vier Monaten an der Schule und ich bin noch auf der Suche nach Verbündeten. Ich glaube, dass das noch Zeit braucht. Daher fühle ich mich in gewisser Hinsicht noch alleine. Zumal es auch ein großes Kollegium ist und im Schulalltag kaum Zeit bleibt, um sich kennenzulernen.
Vor ein paar Wochen hatte das gesamte Kollegium eine Fortbildung zum Thema Diskriminierung. Es gab dabei einige sehr aufwühlende Situationen, in denen beispielsweise diskriminierendes Verhalten nicht anerkannt und die strukturelle Problematik von Schule als System nicht gesehen wurde. Ich war danach emotional sehr angefasst und hatte starke körperliche Reaktionen. Im Kleinen gab es aber auch Momente, die mir in Bezug auf eine diskriminierungskritische Haltung unter dem Schulpersonal etwas Hoffnung geben. Es werden sicherlich früher oder später andere größere Konflikte aufkommen und ich möchte als einzige Schwarze Lehrkraft dann nicht alleine dastehen. Ich weiß zwar, dass ich Verbündete außerhalb habe, dennoch brauche ich auch Verbündete innerhalb meines Arbeitsorts.
Tuğba: Ich habe an manchen Tagen Hoffnung und denke, es könnte ja sein, dass Menschen nicht-diskriminierend sein wollen, sich weiterbilden und sensibilisieren wollen. Wie geht es mir derzeit? Ich fühle mich in den letzten Wochen noch einsamer als zuvor. Ich habe die Sehnsucht nach Zusammenhalt. Ich habe den Impuls mich zurückzuziehen, aber gleichzeitig ist es wichtig zu sprechen. Ich habe das Gefühl, den Kindern wird nicht ausreichend Raum gegeben, ihre Bedürfnisse zu äußern. Lehrpersonen brauchen wirklich mehr Unterstützung im Umgang mit den aktuellen Lebensrealitäten der Kinder, weil viele von ihnen Verluste in ihrer Heimat erleben. Ich hatte sonst die Kraft, Widerstand zu leisten, gerade aber nimmt mir all das die Sprache. Das sollte nicht sein. Das Dilemma zwischen gehen-wollen, aber bleiben-müssen wird für mich immer größer. Denn es muss schließlich jemand da sein, der den Kindern signalisiert, dass sie gesehen werden.
Saraya: Ich kann nur aus der Vergangenheit sprechen, weil ich gerade nicht an einer Schule arbeite. In meinem Berufsleben habe ich unterschiedliche Phasen durchgemacht. Für mich waren schon im Studium der Anknüpfungspunkt an Antidiskriminierungsarbeit nicht unbedingt meine eigenen Erfahrungen, sondern vielmehr die Frage, wie werde – und später – bin ich Lehrerin in diesem System – mit dem Ziel, vor der Rente die bestmöglichste Lehrerin zu sein, die ich im Rahmen meiner Möglichkeiten sein kann. Ich war an sehr unterschiedlichen Schulen, vom klassischen Gymnasium bis hin zur einer als sogenannter ›Brennpunkt‹ gelabelten Schule. Was bedeutet es also an diesen verschiedenen Orten für Schüler*innen unter Berücksichtigung aller Diskriminierungskategorien und Ebenen von Diskriminierungen Unterricht zu gestalten?
Ich habe sehr unterschiedliche Reaktionen in den Kollegien vernommen, mir ist jedoch keine Schule in Erinnerung geblieben, von der ich sagen würden, sie könne als sehr gutes Beispiel für eine diskriminierungskritische Schule vorangehen. Meine erste Schule nach dem Referendariat war in der Rückschau wahrscheinlich die beste. Wir hatten unserem Schulleiter zwar immer wieder die Hölle heiß gemacht, doch im Nachhinein waren die Zustände dort im Vergleich zu dem, was ich danach an anderen Schulen gesehen habe, zumindest schon ganz okay und ein guter Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen. Auch die Auseinandersetzung mit schulpolitischen Fragen war in den verschiedenen Kollegien wechselhaft. Da gab es auch Erlebnisse, dass für einen Zeitraum von anderthalb Jahren nur noch wenige Kolleg*innen mit mir gesprochen haben. Ich lese gerade mein Arbeitstagebuch, das ich bereits seit dem Referendariat schreibe. Dabei merke ich, dass persönliche Auseinandersetzungen im Kollegium für mich nie im Zentrum standen. Mir ist es wichtig, auf fachlicher Ebene Widerspruch zu leisten und dies an ganz konkrete pädagogische, lernpsychologische, pädagogisch-ethische Fragen zu knüpfen. Diskriminierungskritische Arbeit soll nicht als Add-on angesehen werden, sondern als der Boden, auf dem wir in unserer Arbeit an Schulen stehen.
Die Verzweiflung darüber, was im Schulsystem passiert und dass ich wiederum Teil davon bin, hat dennoch wiederholt zu dem Gedanken geführt, meine Arbeit dort einfach zu beenden. Ich habe auch versucht, dieses Gefühl der Verzweiflung mit viel ehrenamtlicher Arbeit zu kompensieren, um angesichts dieser Schieflage überhaupt noch in den Spiegel schauen zu können. Denn ich gehe immer davon aus, dass ich als Lehrerin selbstverständlich auch diskriminiere und somit Teil eines legitimierenden Systems bin. Ich fand nur sehr begrenzt Möglichkeiten vor, dies auch wieder aufzubrechen und den Schüler*innen den Raum zur Diskussion zu geben. Der eigentliche Auftrag von Schule findet kaum statt: diskriminierungskritische Arbeit wirklich im Unterricht zu verankern und darüber über mehrere Schuljahre in der Auseinandersetzung zu bleiben. Schüler*innen sollen indessen das tun, was Erwachsene nie tun würden, wie etwa sich streiten, danach froh zusammensitzen, sich die Hand geben und vorgeben, dass jetzt alles wieder in Ordnung sei. Ich habe selten Erwachsene gesehen, die das machen und können, aber Schüler*innen sollen all diese Dinge können.
Saphira: Ich kann den Punkt bestätigen, dass es zu wenig Raum und Zeit gibt, um im Schulkontext bestimmte Diskurse zu führen. Ich habe bewusst die Entscheidung getroffen, erst einmal nicht mehr an Schulen zu arbeiten. Für mich spielten dafür unterschiedliche Gründe eine Rolle. Was auf jeden Fall kein Grund für mich war, aus dem Schulsystem auszutreten, waren die Schüler*innen. Wegen der Schüler*innen habe ich an dem Beruf festgehalten, bis ich schließlich für mich eine Grenze gezogen habe. Mir war es immer wichtig, den Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen. Dadurch haben sich auch leichter Gelegenheiten für die individuellen Belange der Lernenden ergeben. Gleichzeitig saß mir stets der allgegenwärtige schulische Zeitdruck im Nacken, denn eigentlich müsste ich doch schon längst mit der Vermittlung des passé composé fertig sein. Ich habe mich oftmals fremdgesteuert gefühlt und mich gefragt, ob ich wirklich hinter dem stehe, was ich mache.
Tuğba und Camilla, ihr arbeitet aktuell an Schulen und seid mitten im Geschehen. Lehrkräfte beklagen nicht selten das extrem hohe Arbeitspensum. Könntet ihr skizzieren, inwiefern ihr Mehrarbeit, insbesondere im Kontext von Antidiskriminierungsarbeit, leistet?
Tuğba: Ich war an meiner Schule eine Zeit lang Kontaktperson für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Nur durch Zufall habe ich erfahren, dass Schulen sogar verpflichtet sind, hierfür jemanden einzustellen. Ich habe selbst die Initiative ergriffen und mich bei der Schulleitung für diese Position bereitgestellt. Es wurde für mich schnell deutlich, wie groß der Bedarf seitens der Schüler*innen ist, über diese Themen zu sprechen. Um hierfür eine Sprechstunde anbieten zu können, habe ich schließlich auf meine Mittagspause verzichtet.
Es stellt sich mir oft die Frage, ob ich die Zustände aushalten kann und wann es Zeit ist zu gehen. Ich habe entschieden zu bleiben, aber ich entlaste mich selbst, indem ich mir Unterstützung von außen hole. Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass es so einen hohen Bedarf gibt, der aber nicht gedeckt wird. Es gibt zahlreiche Themen, die von anderen Lehrkräften nicht erkannt oder nicht behandelt werden. Ich habe daher Kooperationen mit Vereinen und Organisationen geschlossen, Expert*innen eingeladen, Workshops gebucht oder Verlage angeschrieben, um die Schulbibliothek mit vielfältigerer Literatur auszustatten.
Wenn ich von Mehrarbeit spreche, möchte ich auch den Faktor Zeit benennen: Zeit stellt eine wichtige Ressource dar, die im Schulalltag ohnehin schon sehr knapp vorhanden ist. Ich habe nun noch weniger Zeit, da ich selbst ein Kind mit meinem Mann betreue. Politische Arbeit ist ein großer Luxus, wofür ich momentan nicht ausreichend Zeit habe. Viele Menschen haben schlichtweg keine Kapazitäten, weder um emotionale noch um politische Arbeit leisten zu können.
Camilla: Ich finde es bewundernswert, was du nebenbei noch alles leistest und kann mich vor allem deinem letzten Punkt anschließen. Es bleibt ständig zu wenig Zeit. Wir leisten alle mehr als das, wofür wir eigentlich bezahlt werden. Ich bin froh, dass ich das Referendariat hinter mich gebracht habe und beim Unterrichten wieder etwas mehr meinen eigenen Weg gehen kann. Trotzdem fühle ich mich stärker beobachtet. Ich habe durchaus das Gefühl, dass ich mehr leisten muss als meine Kolleg*innen. In diesem Beruf werden wir natürlich auch mal emotional, doch wenn ich Emotionen zeige, scheint es so, dass mir schnell der Stempel »Du bist unprofessionell« aufgedrückt wird. Seitdem ich das Referendariat beendet habe, ist das etwas besser geworden und ich bekomme inzwischen auch wertschätzendes Feedback.
Saraya: Ich finde es interessant, wenn du erzählst, dass dir mangelnde Professionalität vorgeworfen wird. Ich benutze beispielsweise nie den Begriff Sensibilisierung im Kontext von Antidiskriminierungsarbeit. Das soll nicht heißen, dass ich diese Arbeit nicht als wichtig empfinde. Ich kann auch nicht vorschreiben, sensibel zu sein. Ich kann aber von Lehrer*innen Professionalität verlangen. Dazu braucht man unter anderem Analysekompetenzen, ein Verständnis der Institution, Wissen über Bildungsgeschichte und diskriminierende Kontinuitäten: Warum etwa spricht man von Sonderpädagogik und welche Geschichte hat diese beispielsweise in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus? Welche Kinder werden auf unterschiedlichste Weise vom Unterricht ausgeschlossen? Das sind alles Dinge, die wir als Lehrkräfte wissen müssen, weil unter anderem darauf unsere Analysekompetenz fußt. Nur so können wir bestimmte Dinge und Strukturen, vor allem jene, bei denen es nicht sofort offensichtlich ist, als diskriminierend erkennen. Denn ich würde sagen, dass Diskriminierung – wenn es sich um institutionelle Diskriminierungen oder Diskriminierungen durch Lehrende handelt – in den meisten Fällen nicht offen passiert. Es gäbe viele Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, jedoch wird dann auch wieder der Rückschluss gezogen, dass dafür keine Zeit sei. Für Berufsanfänger*innen ist das vielleicht auch noch mal etwas anderes, da das am Anfang als Mammutaufgabe erscheint. Dieses Gefühl der Überforderung verfliegt auch irgendwann, sodass alles wie in einer Matrix verläuft und das gibt einem Halt. Diesen Halt bekommt man eben nur, wenn man Analyse- und Handlungskompetenz hat, um im Fall von Diskriminierung tatsächlich intervenieren zu können. All diese Dinge werden überhaupt nicht als Profession wahrgenommen, sie sind aber die Basis für pädagogisch-ethisches Handeln. Und im Gegensatz zu anderen Ländern – zum Beispiel in der Schweiz, wo es Standesregeln für Lehrer*innen gibt – gibt es hierfür in Deutschland keine ebensolche Verständigung. Was sind denn eigentlich pädagogisch-ethische Standards, denen wir uns verpflichtet fühlen und was bedeutet das in der Praxis? Für mich ist Praxis nicht lediglich das Handeln an sich, sondern auch immer die Reflexion über das eigene pädagogische, didaktische und methodische Handeln. Wenn das nicht stattfindet, ist das für mich hoch unprofessionell.
Saphira: Wie ihr merken könnt, gibt es sehr viel Redebedarf. Da sich unser Gespräch dem Ende zuneigt, möchte ich mit euch abschließend über Strategien, Selfcare und Empowerment sprechen. Das, was wir heute machen, zählt bereits als eine Strategie: Wir verbünden uns, tauschen uns aus und empowern uns gegenseitig. Welche anderen Strategien habt ihr entwickelt? Wie achtet ihr inmitten all dieser großen Herausforderungen auf euch und was gibt euch Kraft?
Tuğba: Ich darf glücklicherweise an meiner Schule das Fach ›Werte‹ unterrichten und dabei behandle ich alle Formen von Diskriminierung mit den Kindern. Es sind diese kleinen Momente, in denen ich merke, dass meine Arbeit Sinn macht; zum Beispiel, wenn wir einen Ausflug machen, die Museumspädagogin einen sexistischen Spruch äußert und meine Schüler*innen das sofort lauthals als sexistisch benennen können. Ich sehe generell auch Exkursionen, die den Erfahrungsbereich der Kinder weiten und ihnen andere Lebensrealitäten zeigen, als gute Möglichkeit, um sie nachhaltig zu stärken.
Camilla: Für mich ist es sehr wichtig, mich ganz deutlich abzugrenzen. Das ist eine tägliche Übung. Bei all dem, was mir innerhalb des Kollegiums begegnet, überlege ich genau, welche Konflikte ich tatsächlich austrage und wofür ich meine Energie und Zeit aufwende. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen man intervenieren muss. Dennoch ist gelegentliches Ohren-Zuhalten für mich eine hilfreiche Strategie.
Saraya: Das, was einem*einer oft geraten wird, hat mir weniger genützt, etwa, dass ich ein heißes Bad nehmen oder eine Gesichtsmaske auflegen solle. Diese Art von Optimierungs-Selfcare hat mich oft eher wütend gemacht. Insbesondere im Kontext von sozialer Klasse finde ich derartige Ratschläge wirklich unverschämt. Aber das ist nur mein persönliches Befinden.
Politische Arbeit hat mich empowert. Mehr Wissen zu generieren und eine feste Analyse zu haben hat mich empowert und mir auch bei der Entscheidung geholfen, wie ich etwas sage, oder wann ich nichts sage, aber infolgedessen einen Brief an entsprechend zuständige Stellen schreibe. Strategisches Wissen war für mich daher sehr hilfreich. Ich habe mich mit all dem Nerdkram beschäftigt, mit dem sich viele in meinem Kollegium nicht unbedingt beschäftigt haben: mit Verordnungen, Gesetzen, Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, dem Schulgesetz etc. Das war für mich sehr kraftvoll. Auch solche Netzwerke wie eures zähle ich dazu. Ich empfinde es für mich als sehr stärkend, Menschen zu finden, die Interesse haben, sich auszutauschen, weiter nachzudenken und gemeinsam zu lernen.
An das, was Camilla vorab gesagt hat, kann ich anknüpfen. Auch ich suche mir gezielt aus, in welchen Situationen ich Widerstand leiste. Gleichzeitig habe ich mir diese Sicherheit und Freiheit erarbeitet, mir stets die Option offenzuhalten, im Notfall einen Ort endgültig zu verlassen. Und ich habe natürlich die Hoffnung, dass wir irgendwann alle zusammen eine Schule gründen, die ganz anders sein wird!
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[1] BI_PoC ist die Abkürzung für Black, Indigenous and People of Color und stellt eine politische Selbstbezeichnung von rassistisch diskriminierten Personen dar. (vgl. Neue deutsche Medienmacher*innen, 2024).
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Fereidooni, Karim (2016): Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext. Wiesbaden.
Neue deutsche Medienmacher*innen (o.A.). NdM-Glossar. URL: https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/people-of-color-poc/ [17.12.2023].