André Vollrath
Der Text behandelt die Frage, warum Trainings, in denen weiße Menschen sich kritisch mit der Rolle von weiß sein in der Geschichte und Gegenwart rassistischen Denkens auseinandersetzen, so herausfordernd sind. Er stellt drei Methoden und Übungen vor, die Bildungsarbeiter*innen helfen können, dieser Herausforderung zu begegnen. Und er beschreibt die Erfahrung mit diesen Methoden in dem von Pasquale Virginie Rotter und mir entwickelten Workshop Gemeinsam landen: kritisches weißsein in Bewegung.
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Im Mai 2021 haben Pasquale Virginie Rotter und ich den Workshop Gemeinsam landen: kritisches weiß sein in Bewegung für das Festival Platz für Diversität!? – Diskriminierungskritische Allianzen zwischen Kunst und Bildung gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Teilgenommen haben ca. sechzehn Teilnehmer*innen, die sich bereits mit kritischem weiß sein beschäftigt hatten. Der Workshop fand online statt, alle Teilnehmenden verständigten sich in Lautsprache.
In diesem Workshop hatten wir uns vorgenommen »gemeinsam zu landen«. D.h. wir haben mit vielen Methoden gearbeitet, die Teilnehmer*innen von kritischen weiß seinsworkshops darin zu unterstützen, emotional stabiler in die Auseinandersetzung mit dem eigenen weiß sein zu gehen und seine Funktion in der Geschichte und Gegenwart rassistischen Denkens kritisch zu hinterfragen. Dadurch machen diese Methoden es weniger wahrscheinlich, dass die typischen Abwehr- und Ausweichreaktionen, welche Diskussionen um Rassismus häufig begleiten, das Geschehen bestimmen. Und sie tragen dazu bei, die Kommunikation im Workshop liebevoller und effektiver zu gestalten. Drei dieser Methoden werde ich in diesem Text vorstellen, doch zunächst: Was ist kritisches weiß sein und warum sind Trainings dazu so herausfordernd?
Was ist kritisches weiß sein?
Die Kategorie weiß als Bezeichnung einer ›Hautfarbe‹ hat in der Geschichte des europäischen Kolonialismus und Rassismus eine zentrale Rolle gespielt. Denker der europäischen Aufklärung benutzten sie, um die Existenz und Überlegenheit einer ›weißen Rasse‹ zu behaupten. So ließen sich bereits bestehende koloniale Ausbeutungsprozesse begründen und rechtfertigen. kritisches weiß sein ist ein Oberbegriff für interdisziplinäre Forschungen, die sich kritisch mit dieser kolonial-rassistischen Geschichte und ihrem Fortwirken in der Gegenwart beschäftigen. kritisches weiß sein ist ursprünglich kein akademisches Wissen. Es ist, so habe ich es zum ersten Mal von der interdisziplinären Künstlerin, Autorin und Psychologin Grada Kilomba gelernt, Schwarzes Erfahrungswissen und Teil der Geschichte Schwarzer Kultur- und Wissensproduktion. Denn Schwarze Menschen waren im Zuge des europäischen Kolonialismus darauf angewiesen, das Verhalten weißer Menschen zu analysieren, zu deuten und vorherzusagen. Sie entwickelten ein Wissensarchiv über weiß sein. Nur so konnten sie in einem System weißer Dominanz überleben.
Was macht Trainings zu kritischem weiß sein so herausfordernd?
Trainings zu kritischem weiß sein sind für weiße Menschen häufig sehr aufwühlend, irritierend und unangenehm. Das hat zum einen mit dem Thema, seiner gewaltvollen Geschichte und Gegenwart zu tun. Die Beschäftigung mit dem eigenen Täter*in-Sein in dieser Geschichte löst viele Emotionen wie z. B. Schuld, Scham, Wut, Hilflosigkeit und Angst aus. Zum anderen hat es mit der Art und Weise zu tun, wie in Schule und (Bildungs-)Institutionen Lernen und politische Bildung gelebt werden. Weite Teile des deutschen Bildungssystems bereiten nicht darauf vor, den eigenen Körper und die eigenen Emotionen wahr und ernst zu nehmen und sie als wichtigen Teil von Lernprozessen zu begreifen. So wissen viele häufig nicht, was sie tun können, wenn Emotionen, die sie als ›schwierig‹ erleben, beim Lernen auftauchen. Das, sowie mangelnde Übung im Sprechen über die unsichtbare Norm des weiß seins führt in Workshops zu kritischem weiß sein häufig dazu, dass weiße Menschen den emotionalen Stress, den das Thema auslöst, nicht halten können. Sie verlassen innerlich die Situation und ›helfen‹ sich mit verschiedenen Abwehr- und Ausweichstrategien.
Meine eigene Auseinandersetzung mit kritischem weiß sein als weiße Person ist stark geprägt von dieser Erfahrung. Sie begann um das Jahr 2007 herum an der Universität. Ich studierte damals Literaturwissenschaft und Philosophie – weiß sein, Rassismus und Postkolonialität wurden dort noch kaum bearbeitet. Das Thema bewegte mich sehr. Es stellte so vieles in Frage, was ich bis dahin über deutsche und europäische Geschichte gelernt hatte. Und mir wurde bewusst, wie sehr ich selber als weiße Person in rassistisches Wahrnehmen, Denken und Handeln verstrickt war. So hatte ich das große Bedürfnis, mein neues Wissen mit anderen weißen Menschen zu teilen. Ich dachte damals, es käme vor allem darauf an, anderen weißen Menschen gute Argumente dafür zu präsentieren, wie sehr Rassismus unser Leben prägt. Das, was dann meistens folgte, haben viele afro-deutsche Autor*innen bereits seit Jahrzehnten so oder anders beschrieben – zum Beispiel May Ayim 1986, Noah Sow 2008 und Tupoka Ogette 2017: Die Stimmung ist angespannt. Der Raum ist voller unverdauter, direkter oder mühevoll versteckter Emotionen. Die Erfahrungen von BI_PoC werden klein geredet, relativiert oder geleugnet. Und auch in Workshops zu kritischem weiß sein, die ich in dieser Zeit besuchte und in denen es bereits Konsens war, dass es strukturellen Rassismus gibt, eskalierte die Situation nahezu immer.
Was war da los? Warum war es so schwer, über weiß sein zu sprechen? Warum führten Emotionen wie Angst, Scham und Wut nur zu unproduktiven Auseinandersetzungen oder erstarrtem Schweigen? Wie ließen sich diese Gefühle stattdessen in Kraft und Handlungs-fähigkeit für eine rassismusfreie(re) Welt verwandeln? Erste Impulse, Lernprozesse nicht getrennt vom körperlich-emotionalen Erleben zu denken, erhielt ich schon damals von Grada Kilomba, von der ich bereits weiter oben sprach. In ihrem Workshop In Your Soul näherte sie sich postkolonialer Theorie und kritischem weiß sein über »psychoanalytische Elemente, Bewegung und Performance« (Kilomba 2010). Ich erlebte, wie wichtig spielerisch-kreative Körperübungen sein können, um ein Klima der Verbundenheit, des Vertrauens und der Freude in einer Lerngruppe zu schaffen. Andere Übungen verdeutlichten, wie Körper im Raum – je nach Stellung zueinander – Machtwirkungen entfalten. Die Übungen machten erfahrbar, welche Rolle der Körper in rassistischen Herrschafts-dynamiken spielt und wie sich diese performativ durchbrechen lassen. Eine weitere wichtige Begegnung war später – als ich selber begann Workshops zu kritischem weiß sein zu geben – Autor*in und Empowermenttrainer*in Pasquale Virginie Rotter. Pasquale arbeitete schon länger im Rahmen von Empowermenttrainings für Schwarze Menschen und People of Colour mit dem Körper. Der Austausch mit Pasquale – professionell und freundschaftlich – wurde für mich zur wichtigsten Inspirationsquelle der folgenden Jahre. Er bestärkte mich immer wieder bei dem Versuch, mehr Körperbewusstsein in Lernorte zu tragen, die traditionell den Körper in Lernprozessen ignorieren.
Die drei Methoden, die ich im Folgenden beschreibe, haben Pasquale und ich im Workshop Gemeinsam landen: kritisches weiß sein in Bewegung neben vielen anderen angewandt. Ich schildere die Erfahrung mit diesen Methoden aus meiner Perspektive als weißer Workshopleiter. Auch beschränke ich mich auf Methoden, die ich in die gemeinsame Arbeit eingebracht habe. Denn ich kann über diese und ihre Hintergründe am besten sprechen.
Die Basis: Wertschätzende Beziehungen
und stärkende Gefühle
Viele weiße Menschen, die sich entschließen, zu einem kritischen weiß seinsworkshop zu kommen, bringen Angst mit in die erste Sitzung. Diese wird z. B. genährt von Fragen wie: Wie werde ich angenommen? Was, wenn ich unbewusst Rassismus reproduziere? Was, wenn jemand anderes etwas Rassistisches sagt? Auch in unserem Workshop schien mir die Stimmung zu Beginn angespannt, abwartend, misstrauisch. Angst ist kein guter Beginn für eine ehrliche und tiefe Auseinandersetzung mit Rassismus. In dieser Auseinandersetzung hinterfrage ich mich kritisch und zeige mich verletzlich. Das funktioniert besser, wenn ich mich sicher fühle und Vertrauen in den Rahmen habe. Deshalb sind unterstützende, wertschätzende Beziehungen zu den anderen Teilnehmer*innen und der Leitung unverzichtbar. Und ich brauche Kraft. Wenn ich bereits angeschlagen von einer fordernden Lebenssituation in den Workshop komme, wird es sehr schwer, die emotionale Spannung zu halten und zuzulassen, die mit den Themen weiß sein und Rassismus verbunden ist. Es macht also sehr viel Sinn, zu Beginn eines Workshops mit Methoden zu arbeiten, welche die Anwesenden emotional »landen« lassen, sie stabilisieren und stärken. Den Ursprung der folgenden Methode kann ich leider nicht mehr nachvollziehen. Sie ist mir in ähnlicher Form in unterschiedlichsten Workshops begegnet. Gerade in Workshops zu kritischem weiß sein habe ich sie immer wieder als sehr wertvoll und fruchtbar erfahren.
Die Methode und Erfahrung im Workshop
In der Einstiegsphase des Seminars werden die Teilnehmenden eingeladen, ein vierminütiges Gespräch mit einer Person zu führen, die sie nicht kennen. Das Thema des Gesprächs: ein guter Moment von letzter Woche. Das muss kein herausragender Moment sein, gerade auch kleine, ganz alltägliche Momente, deren Wert wir im Alltag häufig übersehen, sind willkommen. Die jeweils sprechende Person teilt ihren Moment, die andere Person hört zu, dann wechseln sie. Diese Übung lässt sich ausdehnen auf ein bis zwei weitere kleine Gespräche mit wechselnden Partner*innen. Ein weiteres Thema könnte zum Beispiel sein: Das mache ich richtig, richtig gerne. Es sollten Themen sein, die noch nicht direkt mit weiß sein und Rassismus zu tun haben, Teilnehmende in Kontakt bringen und positive Gefühle nähren. In dem Moment, wo die Teilnehmenden in der Großgruppe wieder zusammenkommen, gibt es die Möglichkeit, die Übung weiter zu vertiefen – eine Variante, wie ich sie von der Rhetorik- und Empowerment-Trainerin Julia Lemmle kennengelernt habe. Die Teilnehmenden werden eingeladen, ein paar tiefe, bewusste Atemzüge zu nehmen und den Kontakt ihres Körpers zum Boden oder Stuhl wahrzunehmen. Sie lassen dann das soeben geführte Gespräch innerlich Revue passieren – sehenden Teilnehmer*innen hilft es häufig, wenn sie dabei die Augen schließen. In diesem Prozess des Erinnerns lenkt die Leitung die Aufmerksamkeit bewusst auf das körperliche Erleben. Die Einladung lautet: Nehmt bewusst wahr, wie es sich angefühlt hat, eine positive Erfahrung zu teilen. Wie reagierte euer Körper darauf? Wo im Körper habt ihr vielleicht Energie gespürt? Was spürt ihr noch? Und dann nehmt wahr, wie es euer körperliches Erleben beeinflusst hat, einer Person zuzuhören, die positive Erfahrungen teilt. Was genau habt ihr gespürt? Wo im Körper habt ihr das gespürt?
Im Anschluss an diese Methode ist häufig eine gewisse Erleichterung im Raum zu spüren, so auch in unserem Workshop. Die anfängliche von Angst und Misstrauen beherrschte Stimmung war einer freieren und offeneren Atmosphäre gewichen.
Die Kunst (kurz) innezuhalten bevor
wir Handeln
Die Emotionen, welche viele weiße Menschen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen weiß sein als ›schwierig‹ erleben, lösen, wie zu Beginn dieses Textes beschrieben, Stress aus. Typische Stressreaktionen sind: Angriff, Flucht, Erstarrung. Diese Reaktionen laufen automatisiert und sehr schnell ab. Sie erklären viele unfruchtbare Auseinandersetzungen über Rassismus in weißen Gruppen. Im Stress erleben wir uns als Getriebene mit wenig Handlungsspielraum und erst im Nachhinein – mit etwas Zeit und Abstand – setzt dann häufig die Reflexion ein und wir denken uns vielleicht: »Musste ich da so reagieren? Das passt eigentlich nicht zu der Person, die ich sein will«. Eine wertvolle Übung besteht deshalb darin, schon in der Stresssituation selbst zu entschleunigen. Das hilft uns dabei, nicht einfach nur zu reagieren, sondern unsere Antwort bewusst zu wählen. Wir kultivieren unsere »response-ability«. Das folgende Zitat, das dem österreichisch-jüdischen Psychologen Victor E. Frankl zugeschrieben wird, bringt das auf den Punkt:
»Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.«
Es gibt viele Möglichkeiten, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu vergrößern und zu uns zu kommen, bevor wir im Außen handeln. Wertvolle Übungen beschreibt z. B. der afroamerikanische Psychologe Resmaa Menakem (2017) in seinem Buch My Grandmother’s Hands. Racialized Trauma and the Pathway to Mending Our Hearts and Bodies. Die folgende Achtsamkeitsübung könnte aus diesem Buch stammen. Inspiriert dazu hat mich allerdings – einige Jahre bevor ich auf dieses Buch stieß – der vietnamesische Zen-Mönch und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh. Er prägte vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs den Begriff des »Engagierten Buddhismus«, um buddhistische Grundhaltungen und Achtsamkeitspraktiken mit sozialem und politischem Engagement zu verbinden. Diese Übung in Seminarkontexten anzuwenden und hier zu teilen scheint mir stimmig, weil Thich Nhat Hanh Zeit seines Lebens ein großes Interesse daran hatte, möglichst vielen Menschen Achtsamkeitspraktiken zugänglich zu machen. Er hat zu diesem Zweck viele einfache Übungen entwickelt, die sich ohne viel Aufwand in den (politischen) Alltag integrieren lassen.
Die Übung und Erfahrung im Workshop
Auf ein vereinbartes Zeichen hin halten alle Teilnehmer*innen im Workshop inne. Sie nehmen ein bis drei langsame, tiefe Atemzüge. Mit dem Einatmen richten sie ihre Aufmerksamkeit auf Körper-bereiche, in denen sie Anspannung spüren. Bereiche, in denen wir uns in Stresssituationen zusammenziehen sind z. B. die Stirn, der Kiefer, die Schultern, der Bauch. Mit dem langsamen Ausatmen lassen sie etwas von dieser Spannung los, werden weicher in den entsprechenden Körperbereichen. Die Anleitung könnte also heißen: Einatmend werde ich mir bewusst, wo im Körper ich angespannt bin, wo ich etwas festhalte, ausatmend lasse ich die Spannung los, werde ich weicher. Übungen wie diese entfalten ihr ganzes Potenzial mit der Häufigkeit der Anwendung. Wir üben uns im Innehalten, Wahrnehmen des Körpers und Loslassen von Spannung. Sie kann im Laufe eines Seminars wiederholt werden.
Ein Vorteil in diesem Seminar war, dass die Teilnehmenden in ihrer Auseinandersetzung mit Rassismus nicht mehr am Anfang standen. Sie hatten bewusst einen Workshop gewählt, der die Beschäftigung mit dem Körper ins Zentrum stellte. Sie wussten um den Wert dieser Beschäftigung. Deshalb war die Offenheit für körperorientierte Übungen sehr groß. Die Übung entschleunigte die Abläufe. Die Teilnehmenden wirkten danach auf mich ruhiger, geklärter und konzentrierter und die Gruppe als Ganze mehr ›in tune‹ – aufeinander eingestimmt.
Belastende Gefühle erlauben,
artikulieren und entladen
Gefühle wie Angst, Wut und Scham, die in der Auseinandersetzung mit weiß sein hochkommen können, sind unangenehm. Deshalb versuchen viele weiße Menschen sie loszuwerden. Nicht selten geschieht das bei Menschen, die selber von Rassismus betroffen sind. Diese bekommen dann eine doppelte Aufgabe: Sie müssen tagtäglich mit strukturellem Rassismus umgehen und sich um unsere unverdauten Gefühle kümmern. Das kann nicht der Weg sein. Aber daraus folgt auch nicht, diese Gefühle zu verurteilen und zu verdrängen, denn davon gehen sie nicht weg. Im Gegenteil, wenn wir das tun, befinden wir uns in einem permanenten Kampf gegen unser inneres Erleben. Wir bauen so noch mehr inneren Druck und Stress auf. Emotionale Transformation beginnt mit dem Erlauben der Gefühle, die da sind, auch wenn sie uns nicht gefallen. Und es ist meiner Meinung nach die Aufgabe von weißen Communities Orte und Praktiken bereit zu stellen, um sich beim Entlernen von Rassismus auch emotional gegenseitig zu unterstützen. Die folgende Methode könnte eine neben anderen Praktiken einer solchen emotionalen Arbeit sein. Sie stellt eine Möglichkeit dar, herausfordernde Gefühle zu erlauben, zu artikulieren und so zu entladen, ohne dabei auf Widerstand, Nachfragen, Bewertungen und Urteile zu treffen, also in einem empathischen, wertschätzenden und sicheren Rahmen. Die Methode basiert auf einer Form des Co-Counceling, wie ich sie bei der weißen deutschen Autorin und Impulsgeberin für kulturellen Wandel Vivian Dittmar kennengelernt habe. Dieser kritische weiß seinsworkshop war der erste, in dem ich mit ihr gearbeitet habe. Sie schien mir vor allem passend für weiße Menschen, die sich schon eine Weile mit kritischem weiß sein auseinandergesetzt haben und dabei immer wieder auf emotionale Hürden stoßen.
Die Methode und Erfahrung im Workshop
Zwei Personen tauschen sich zu folgenden Fragen aus:
In der Auseinandersetzung mir kritischem weiß sein begleiten mich häufig folgende Gefühle …
Diese Gefühle werden von Gedanken begleitet wie …
Es spricht jeweils eine Person vier Minuten lang, die andere hört zu. Die sprechende Person sollte darauf achten, wirklich von sich zu sprechen, ihren Gefühlen und den Gedanken, die mit diesen Gefühlen verbunden sind. Die Person beschreibt und drückt ihr inneres Erleben aus. Sie bewertet dieses Erleben nicht und zieht auch noch keine Schlussfolgerungen, was jetzt zu tun wäre. Ein Teil ihrer Aufmerksamkeit ist bei ihrem Körper. Denn viele Menschen spüren, wenn sie beim Sprechen mit ihren Gefühlen verbunden sind oder nicht. Es ist dann als würden wir uns ›etwas von der Seele reden‹, wir beginnen, uns leichter zu fühlen, etwas in uns gerät in Bewegung, wir sprechen mehr vom Herzen als vom Kopf her. Sollte die Person den Impuls haben, nicht zu sprechen, das Bedürfnis zu schweigen, ist das ebenso willkommen – denn auch Schweigen kann eine Form des Ausdrucks sein. Auch ließe sich die Methode sicher an weitere Ausdrucksformen jenseits der Lautsprache anpassen.
Die zuhörende Person spricht nicht, macht keine Kommentare, gibt keine Ratschläge, analysiert nicht und stellt auch keine Nachfragen. Sie schenkt ihre volle Aufmerksamkeit und Empathie. Sollte sie bestimmte inhaltliche Aussagen nicht teilen, respektiert sie, dass es für die sprechende Person gerade so ist, wie es ist. Sie hält den Raum, in dem das Gesagte sein kann. Auch sie ist während des Zuhörens mit ihrem Körper im Kontakt und entspannt mit jedem Ausatmen bewusst, wenn sie merkt, dass sie sich anspannt. Beide Personen stimmen zu, dass sie nach dem Gespräch nicht mehr auf die Inhalte des Gesagten eingehen und es informell weiterführen. Auch stimmen sie zu, dass nichts Gesagtes den Raum verlässt und anderen weitererzählt wird.
Die Methode ermöglichte im Seminar einen Raum tiefer Begegnung, Akzeptanz und Transformation. Entsprechend bewegt und berührt waren viele Rückmeldungen. Allerdings gab es auch eine Rückmeldung, die zeigte, wie emotional herausfordernd diese Methode sein kann. Denn die Erfahrung des Sprechens und Zuhörens kann weitere ›schwierige‹ Gefühle auslösen, die einen zusätzlichen Raum brauchen, um aufgefangen zu werden. Um diesen weiteren Raum zu schaffen, ist eine dritte Runde sinnvoll, wo sich die Paare nur ihre Erfahrung mit der Übung mitteilen: »So war es für mich, hier so offen über dieses Thema und meine Gefühle dazu sprechen…«, »So fühlte es sich an, empathisch präsent zu sein, ohne zu sprechen. Das war für mich daran leicht, schwierig, weil …«. Diese weiterentwickelte Form habe ich ebenfalls bei Julia Lemmle kennengelernt und erfahren, wie sie Teilnehmenden noch mehr Sicherheit im Umgang mit dieser Methode geben kann.
Gedanken zum Schluss:
Es langsam angehen
Gerade weil wir in einer Lernkultur leben, in der es wenig Übung im Umgang mit dem eigenen Körper und Emotionen gibt, kann die Beschäftigung damit Ängste und Unsicherheit auslösen. Deshalb stellt sich immer wieder die Frage, wie wir als Bildungsarbeiter*innen Menschen langsam und mit dem Gefühl, gehalten zu sein, daran heranführen können. Folgendes hat sich dabei für mich als hilfreich erwiesen:
Die Teilnehmenden schon vor dem Seminar darüber informieren, dass körperbezogene (Achtsamkeits-)Übungen Teil des Seminars sind und sich ggf. anpassen lassen an unterschiedliche (körperliche) Bedarfe der Teilnehmenden.
Im Seminar den Sinn und das Ziel der jeweiligen Übung offenlegen.
Körperübungen als Einladung, eine Erfahrung zu machen, formulieren. Niemand wird dazu gedrängt. Der Fokus auf den Körper und Gefühle kann z. B. vor dem Hintergrund bestimmter Erfahrungen von Trauma auch zu beängstigend sein und bräuchte einen anderen Rahmen.
Als Leitung das eigene Körperbewusstsein trainieren und sich selber mit den Übungen vertraut machen. So schaffe ich durch meine eigene Präsenz und Klarheit in der Anleitung bereits einen Raum, der sich sicherer anfühlt. Ich lebe vor, wozu ich einlade.
vgl. Website Festival Platz für Diversität!? (Programm), (siehe Literatur).
»Denker« hier bewusst in der männlichen Form.
Bücher, die mir geholfen haben, mein Verständnis dieser Geschichte zu vertiefen sind z. B. Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schulz, sowie Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weiß seinsforschung in Deutschland, herausgegeben von Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt.
Der afroamerikanische Psychologe Resmaa Menakem (2017) spricht diesbezüglich in seinem Buch My Grandmother’s Hands. Racialized Trauma and the Pathway to Mending Our Hearts and Bodies u. a. von einem über Generationen weitergegebenen, unaufgearbeiteten Tätertrauma.
Die Ignoranz unserer emotionalen Welt hat in einer Gesellschaft, welche die afroamerikanische Kulturkritikerin bell hooks wiederholt als »white supremacist capitalist patriarchy« bezeichnet hat, System. Bereichert hat mich in diesem Zusammenhang auch das Buch Sinnliches Wissen. Eine schwarze feministische Perspektive für alle, in dem die Autorin Minna Salami (2021) den Begriff »europatriarchales Wissen« prägt. Sie beschreibt damit das in unserer Kultur dominante Modell von Wissen und Lernen.
Die weiße amerikanische Soziologin und kritische weiß seins-Trainerin Robin DiAngelo beschrieb dieses Phänomen mit dem Begriff »White Fragility«.
Der Ort dieses Zitates in Victor E. Frankls Werk lässt sich leider nicht genau bestimmen.
Wer mehr über die Hintergründe dieses Zitates erfahren will, wird u. a. auf der Website Viktor Frankl fündig (siehe Literatur).
An dieser Stelle sei nochmal auf Resmaa Menakems Buch My Grandmother’s Hands.
Racialized Trauma and the Pathway to Mending Our Hearts and Bodies verwiesen. Es gibt
viele weitere wertvolle Anregungen, wie weiße Menschen sich besser um ihre körperlichen
und emotionalen Reaktionen im Zusammenhang mit dem eigenen erlernten Rassismus
kümmern können.
Ayim, May/ Oguntoye, Katharina/ Schulz, Dagmar (1986) (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin.
DiAngelo, Robin (2018): White Fragility. Why it’s so hard for white people to talk about racism. Boston, Massachusetts.
Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susan (2005) (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weiß seinsforschung in Deutschland. Münster.
Kilomba, Grada (2010): In your soul – postcolonial theory and performance. Workshopbeschreibung AFRICAVENIR. URL: https://www.africavenir.org/news-details/archive/2010/august/article/in-your-soul-postcolonial-theory-and-performance-workshop-with-grada-kilomba.html?tx_ttnews%5Bday%5D=25&cHash=a17fc61d9c736cf89a0b7ce5889cac82 [17.11.2022].
Menakem, Resmaa (2017): My Grandmother’s Hands. Racialized Trauma and the Pathway to Mending Our Hearts and Bodies. Las Vegas.
Ogette, Tupoka (2017): exit racism. Rassismuskritisch denken lernen. Münster.
Salami, Minna (2021): Sinnliches Wissen. Eine schwarze feministische Perspektive für alle. Berlin.
Sow, Noah (2008): Deutschland schwarz weiß. Der alltägliche Rassismus. München.
Website zu Viktor E Frankl. URL: https://www.viktorfrankl.org/quote_stimulus.html [1.12.2022].
Website Festival Platz für Diversität!? (Programm). URL: https://ksfestival.lineupr.com/platzfuerdiversitaet/item/gemeinsam-landen-kritisches-weisssein-in-bewegung [19.12.2022].