Katie Lee Dunbar, Karen Michelsen, Janice Heinrich
Embroidering The Interruptions (»Die Unterbrechungen besticken«) ist ein Workshop von Katie Lee Dunbar und Karen Michelsen Castañón, Mitglieder des mitkollektiv. Der Workshop fand im Rahmen des Festival Platz für Diversität?! im Mai 2021 statt. Im Interview mit Janice Faith Heinrich sprechen Katie und Karen über die Struktur ihres Workshops, die von ihnen angewandten Methoden und das Potenzial von Textiltechniken in einem pädagogischen Kontext.
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»Was hat der Mythos der sogenannten ›Entdeckung‹ Abya Yalas (der Amerikas) mit jetzigen politischen Ereignissen und unserem heutigen Alltag zu tun? Ausgangspunkt des Workshops ist ein kurzes Video des audiovisuellen Projekts Keine Gedichte für Kolumbus. Hier entstehen unsere Fragen für die anschließende Diskussion. Dabei entwickeln wir ein gemeinsames Verständnis von einem brave space. Es folgt eine performative Übung und ein textiler Gruppenprozess anhand von Stickerei. Unser Ziel ist es, Entdeckungsmythen auseinanderzunehmen und ihre Alltagserscheinungen (Schulbücher, Sprache, Medien usw.) zu erkennen. Gleichzeitig gehen wir in diesem Prozess von unseren gelebten Erfahrungen aus, finden nicht-sprachliche Wege, um in Verbindung zueinander zu treten und fangen an, historische Mythen zu verlernen.«
Ausschreibungstext des Workshops im Programm des Festivals
Erzählt mir gerne mehr darüber, wie ihr den Workshop gestaltet habt. Wie habt ihr begonnen und welche Aspekte habt ihr berücksichtigt, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen? Wie wart ihr in der Lage, die im Workshop gemachten Erfahrungen zu vermitteln?
Karen: Da der Workshop auf der Arbeit mit audiovisuellem Input, Textilien sowie performativer Praxis beruhte, schufen wir die Atmosphäre durch unsere Auswahl der Materialien. Der Workshop fand online statt, also schickten wir den Teilnehmer*innen im Vorfeld Stoffe in verschiedenen Braun- und Rottönen zusammen mit Stickgarn und Stoffstiften.
Durch die Auswahl der Materialien und ihrer Farben hatten wir bereits begonnen, eine Atmosphäre zu kreieren. Zu Beginn des Workshops besprachen wir unseren Verhaltenskodex und unser Verständnis von brave spaces (›mutigen Räumen‹). Außerdem gaben wir den Teilnehmer*innen einen Überblick über die Bestandteile des Workshops.
Katie: Wir legten einen Rahmen für das fest, was passieren würde und welche Erwartungen wir in Bezug auf die Kommunikation miteinander haben.
Karen: Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Schaffung der Atmosphäre war das Gespräch über die Bedürfnisse der Teilnehmer*innen, insbesondere im Hinblick auf die Sprachen, die sie sprechen. Wie viele Sprachen sind in der Gruppe vertreten? Wir wollten nicht davon ausgehen, dass die kolonialen Sprachen, die wir sprechen, wieder einmal dominieren werden.
Katie: Ja, wir wollten diesen mehrsprachigen Raum fördern. Es ist in Ordnung, sich in der Sprache auszudrücken, in der man sich in diesem Moment am liebsten ausdrücken möchte.
Karen: Wir können auch ein paar Methoden und Übungen vorstellen, die wir verwenden, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen. Es gibt eine sehr einfache Übung, die wir zu Beginn gemacht haben, um den Leuten zu helfen, sich nach dem Ankommen zu erden. Wir fragen die Teilnehmer*innen: »Was möchtet ihr loslassen, bevor wir beginnen? Welches Gepäck würdet ihr gerne ablegen?« Dann haben sie zwei Minuten Zeit, um ihre Antwort auf ein Blatt Papier zu schreiben. Durch das Teilen dieser Antworten erhalten wir eine Momentaufnahme der Energien und Anliegen der Menschen, mit denen wir arbeiten.
Katie: Da wir nur einen Rahmen von zwei Minuten geben, erhalten wir auch eher einen ersten Impuls, anstelle einer langen, reflektierten Antwort. Die Methode ist ebenfalls anti-hierarchisch, da alle Anwesenden die gleichen Informationen erhalten.
Karen: Aus der Beschreibung des Workshops ging bereits hervor, dass es darum ging, Mapping (›Kartierung‹) zu hinterfragen und dominante historische Narrative oder Mythen zu identifizieren, die in unserem Alltagsleben präsent sind. Wir begannen mit einem Beitrag der Interview-Serie No more poems for Columbus, an der ich in den letzten Jahren gearbeitet habe. Es ist ein Projekt, welches von den Erfahrungen als Mutter mit Migrationshintergrund in einer hispanischen Schule hier in Berlin geprägt ist. Dort sollte meine Tochter ein Gedicht auswendig lernen, das für Kolumbus geschrieben worden war. Durch das Zeigen dieses 10-15 minütigen Video-Ausschnitts haben wir direkt eine gewisse Atmosphäre geschaffen.
Katie: Ich finde es wichtig, dass es Platz einnimmt und zum Zuhören einlädt. Ich würde sagen, 10 bis 15 Minuten passives Zuhören sind ein guter Zeitrahmen, und dann gehen wir weiter zum aktiven Teil, in dem das Lernen stattfindet.
Karen: Danach kombinierten wir unsere Erfahrungen in der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Bereitstellung performativer Methoden, die sowohl die Stimme als auch textile Techniken einbeziehen. So erhielten zum Beispiel alle Teilnehmer*innen Stoffstreifen in verschiedenen Farben und die Aufforderung lautete: »Schreibe oder zeichne, was dir aus dem Video im Gedächtnis geblieben ist auf den Streifen«. Damit soll visualisiert werden, wie wir unsere Erinnerungen filtern und welche Erinnerungen wir unbewusst auswählen.
Katie: Nachdem wir diese erste Antwort erhalten hatten, gingen wir dazu über, die Fragen, die wir hatten, auf eine verkörperte Weise zu reflektieren. Auch wenn der Workshop online stattfand, wollten wir dennoch Momente haben, in denen wir uns im Raum bewegen und das Material auf eine Art und Weise integrieren, die eine eher körperliche Praxis darstellt. Jeder hatte zuvor ein Wollknäuel erhalten und wir baten sie, als Reaktion auf das Video mit ihren Fragen einen Spaziergang zu machen. Als Moderator*in gab ich ein Beispiel für eine mögliche Frage, um den Rahmen etwas abzustecken. Dann hat jede Person ihre Frage laut ausgesprochen, aber alle taten es gleichzeitig, wodurch man die einzelnen Fragen nicht wirklich hören konnte. Das gab die Möglichkeit, die eigenen Fragen immer noch weiterzuentwickeln. Schließlich fanden die Teilnehmenden einen Punkt im Raum, an dem sie die Wolle zusammenbanden, und dann nahmen sie sie und gingen woanders hin und banden sie dort zusammen, so dass sie ihr eigenes Netz von Fragen und Reflexionen in ihrem eigenen Raum erschufen.
Karen: Nach einer Pause sprachen wir in kleinen Gruppen über verschiedene Fragen. Eine davon war »Wie kann ich den Mythos der ›Entdeckung‹ in meinem persönlichen Kontext unterbrechen?« und auch »Welche historischen Mythen, denen ich in Ihrem Alltag begegne, würde ich gerne verlernen?«. Es bestand auch die Möglichkeit, in diesem Zusammenhang über die eigene Familiengeschichte zu sprechen. Und ich denke, es ist nicht selbstverständlich, wie Katie diese Breakout-Räume mit jeweils zwei Personen eingerichtet hat, denn hier ging es um aktives Zuhören. Die Teilnehmer*innen zu betrachten und zu überlegen, was sie voneinander lernen oder wie sie sich gegenseitig weniger schaden könnten, und sie dann in Gruppen einzuteilen, ist meiner Meinung nach auch eine Expertise. Nach diesen Zuhörsitzungen kamen die Teilnehmenden mit einer Zusammenfassung zurück, die dann in der Hauptgruppe ausgetauscht wurde.
Katie: Dann gingen wir zu einer anderen, eher körperlichen Übung über, nämlich dem ›Ausruf-Gedicht‹. Nach diesen ausführlichen Gesprächen und ziemlich schwierigen Reflexionsfragen konnten die Teilnehmenden ihre Stimmen in Bezug auf das, was sie gerade in ihren Gesprächen erlebt hatten, einsetzen und drei Worte finden, die wir alle gleichzeitig ausrufen würden. Es geht darum, die eigene Stimme zu benutzen, sie loszulassen und nicht darauf zu achten, wie sie gehört wird. Danach gingen wir zum handwerklichen Teil des Workshops über, nämlich das Nähen und die Verwendung der vor dem Workshop verteilten Textilmaterialien.
Karen: Wir haben Quadrate aus gefärbtem Stoff verwendet, die etwa 16 Zentimeter lang sind. Wir wussten, dass wir bei einem dreistündigen Workshop mindestens eine Stunde für die eigentliche Herstellung und das Nähen einplanen mussten.
Katie: Die Teilnehmer*innen hatten auch die Möglichkeit, das Video oder den Ton des Meetings auszuschalten, wenn sie eine Pause brauchten oder die Gruppe für eine Weile verlassen und dann wieder zurückkommen wollten. Das wirklich Schöne an dieser Stunde war, dass alle die Möglichkeit hatten, zu reden, sich auszutauschen und Fragen zu stellen, und zwar in einer Atmosphäre, in der sie mutiger sein konnten. Sie konnten sagen, was sie dachten, oder persönliche Erfahrungen teilen.
Unsere Aufgabe als Vermittler*innen ist es, ihnen die Bausteine dafür zu geben. Und das kann viele verschiedene Formen annehmen. Wenn wir zum Beispiel gemeinsam an einem Wandteppich arbeiten und es einen neuen Stich zu lernen gibt, ist es einfacher, dies gemeinsam zu tun, als wenn ein Scheinwerfer auf eine einzelne Person gerichtet ist. Und vielleicht erkennen wir dadurch, dass jede*r Spaß an Textilien haben kann. Dass wir alle kreative Wesen sind und das Recht haben, dies auszuleben und zu verkörpern. Auf einer sehr praktischen Ebene würde ich sagen, dass das Erlernen des Nähens, das Erlernen des Umgangs mit diesem Material eine Fähigkeit ist, bei der es um Reparatur geht. Ich denke, das ist ein schönes Konzept, vor allem wenn es um Gefühle, Emotionen oder Nachhaltigkeit geht. In der Schule kann es dann strategisch mit Wissenschaft, Kulturgeschichte, sozialen Kontexten und Geschichtenerzählen verknüpft werden.
Karen: Aufgrund meines biografischen Hintergrunds war ich schon immer sehr interessiert an Geschichte und historischen Erzählungen, bei denen Textilien ein historisches Dokument bilden. Wo Textilien nicht auf eurozentrische westliche Diskurse ausgerichtet sind. Textilien wurden und werden hergestellt, um Geschichte zu dokumentieren und über Geschichte zu sprechen, aber sie sind keine geschriebene Sprache. Es ist ein weiteres Potenzial für den Austausch von Informationen und eine Möglichkeit, Geschichte zu schreiben.
Katie: Die Arbeit mit Textilien schafft eine Art Gemeinschaftswissen, bei dem es nicht um Sprache oder Linearität geht - zwei Dinge, die in Schulen sehr präsent sind. Die menschliche Erfahrung ist nicht linear und es geht um kollektives Wissen. Diese Erfahrungen mit Textilien und anderen kreativen Methoden in Schulen zu machen, ist fast so, als würde man ein Gemeinschaftsarchiv für die Zukunft schaffen.
Karen: Ein letzter Gedanke, den ich habe, ist, dass das Potenzial eines Workshops wirklich von den Eröffnungsfragen abhängt.
Katie: Da stimme ich zu. Und auch, wie viel Energie und Austausch darin steckt, was diese Fragen sein könnten und welches Thema wir mitbringen können. Können wir diesen Raum halten? Und können wir diesen Raum dann auch wieder schließen? Eine*r meiner Mentor*innen hat immer gesagt: Öffne nur einen Raum, den du auch wieder schließen kannst. Ich denke, das ist sehr wichtig für Bildungskontexte und für den Einsatz in Schulen. Wenn man eine Stunde Zeit hat, sollte man überlegen, mit welcher Frage man in einer Stunde arbeiten kann. Wenn man einen Monat Zeit hat, kann man sich vielleicht mit mehr schwierigen und heiklen Themen befassen. Wir müssen uns auch fragen, auf welche Art und Weise Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund die Fragen und Inhalte, die wir mitbringen, mit ihren Erfahrungen in Verbindung bringen können.