Shanti Suki Osman
Der Drang, unsere Methoden der Wissensproduktion in Kunst, Wissenschaft und Bildung zu dekolonisieren, ist extrem populär und notwendig geworden. Wer über eine Methodik des dekolonisierten Zuhörens nachdenkt, ist gezwungen, die Fragen zu stellen: Wer wird gehört? Wer hört zu? Was hilft oder hindert uns beim Zuhören und was können wir tun, um etwas zu ändern? Mit Beispielen aus der Kunstpädagogik, der Sound Studies und der feministischen Ethnomusikologie möchte ich drei Arten des Zuhörens vorschlagen, die ein dekolonisierendes Zuhören charakterisieren könnten.
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Dieser Text basiert auf der Key Note Decolonised Listening, die während des Workshops Decolonizing Research Methodologies in Music and Gender Studies: Strategies for Practical Application and Action im November 2019 in Göttingen gehalten wurde. Kurz darauf wurde die Welt von einer Pandemie und den damit verknüpften Einschränkungen und der teils erzwungenen sozialen Isolation heimgesucht, die die Art und Weise, wie wir als Künstler*innen, Forscher*innen und Pädagog*innen über kulturelle Bildung, Hören und Zugänglichkeit nachdenken, verändert hat – und weiter verändern wird. Dennoch entschied ich mich, den Großteil des Inhalts beizubehalten, aus der Überzeugung heraus, dass die Pandemie die aufgeworfenen Fragen sogar noch verschärft hat und somit auch die kollektive Dringlichkeit, sich mit ihnen zu befassen. Der Text ist keine eingehende und theoretische Unter-suchung zu Themen der Dekolonisierung und des Zuhörens, sondern vielmehr ein Vorschlag dazu, was die Dekolonisierung unseres Zuhörens innerhalb der kulturellen Bildung bedeuten könnte.
Ich bin eine in Großbritannien sozialisierte britisch-deutsche Frau of Colour, die jedoch ihr gesamtes Arbeitsleben in Berlin verbracht hat. Ich arbeite aktiv als intersektionale feministische Forscherin, Pädagogin und Klangkünstlerin und die Ideen in diesem Text repräsentieren meine eigenen Standpunkte und die Art und Weise, wie ich in meinem Kunst- und Bildungskontext arbeiten möchte. Die verwendeten Referenzen, Beispiele und die Literatur stammen aus meinem seit 2019 geführten kritischen und wissenschaftlichen Austausch über Feminismen, Klangkunst und Bildung.
2019 wurde ich von der Klangkünstlerin und Wissenschaftlerin Marie Thompson gebeten, an einem Gespräch für ein Kapitel in einem Buch über die im/possibilities of a decolonised listening teilzunehmen (Kyoungwon Lee et al. 2022). Was für eine großartige Gelegenheit, mit anderen feministischen und kritischen Klangkünstler*innen und Wissenschaftler*innen über das Potenzial der Dekolonisierung von Denken, Macht, Sprache und Raum anhand des Themas, das ich liebe – das Zuhören –, zu sprechen. So dachte ich zumindest, denn schon bald überkam mich die Angst vor den kritischen Fragen: Was bedeutet dekolonisiert überhaupt, warum verwende ich diesen Begriff und was glaube ich zu tun, wenn ich sage, ich dekolonisiere etwas?
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Dekolonisierung ambivalent und kritisch verstanden und angewendet wird. Zum Beispiel in ihrem Artikel Decolonization is not a Metaphor [Dekolonisierung ist keine Metapher] aus dem Jahr 2012 kriti-sieren Eve Tuck und K. Wayne Yang die unangemessene Verwendung des D-Wortes zur Beschreibung von Projekten innerhalb der Social Justice Movements, die sich nicht direkt auf die Rückgabe von indigenem Land beziehen.
Unter Bezugnahme auf Janet Malwhinneys Magisterarbeit zum Thema weißes Privileg in der antirassistischen Pädagogik (1998) kritisieren Tuck und Yang (2012) die Siedler*innen und ihre moves to innocence. Dies bezieht sich auf ihre Versuche, sich von Schuld und Verantwortung zu entlasten, ohne sich tatsächlich mit ihrem Privileg auseinandersetzen oder ihre Macht abgeben zu müssen. Dazu gehören:
die Begeisterung der Siedler*innen für die Kultur der Indigenen und ihr Eintauchen in diese; was ihre Fähigkeit betont, diese ebenso schnell wieder zu verlassen
die Einbindung indigener Gemeinschaften in Lehr- und Semesterpläne, um sie zwar miteinzubeziehen, sie aber dennoch in der Position des Anderen zu halten
die plötzliche Erkenntnis, dass Siedler*innen zum Teil selbst Indigene sind – und sich so mit dem Leiden identifizieren, ohne es tatsächlich zu erfahren. Elizabeth Warren, die ehemalige demokratische Präsidentschaftsanwärterin in den Vereinigten Staaten, ist ein Beispiel dafür
die übermäßige Verwendung des Begriffs kolonisiert zur Beschreibung jeder unterdrückten, nicht dominanten Gruppe und damit die Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass auch People of Colour, andere Minderheiten und Migrant*innen zu Siedler*innen werden können!
Dann habe ich den Satz »Dekolonisierung ist kein austausch-barer Begriff für andere Dinge, die wir tun wollen, um unsere Gesell-schaften und Schulen zu verbessern. Dekolonisierung hat kein Synonym« (Tuck/Yang 2012: 3) gelesen. Als ich diesen Satz zusammen mit den weiteren Kritiken an moves to innocence las, setzte mein Unbehagen mit noch größerer Verwirrung und Stärke erneut ein: Was ist es, das ich tun sollte, oder sollte ich das, was ich tue, einfach anders benennen?
Auf der Suche nach Antworten griff ich auf die Ideen und Forschungen meiner vergangenen Seminare Zuhören als Praxis und Das Verlernen des Zuhörens zurück. Wenn Dekolonisierung im eigentlichen Sinne bedeutet, ein Land oder ein Volk politisch unabhängig zu machen, dann kann Zuhören hier als ein Mittel betrachtet werden, um Autonomie zu erreichen, Raum für marginalisierte Perspektiven zu schaffen und die Akzeptanz neuer Realitäten zu erzwingen (vgl. dazu das Konzept der »kontrapunktischen Pädagogik« (Castro Varela 2018; 2021) im Beitrag von Silke Ballath in diesem Band, Seite 110ff.). Ich verwende das D-Wort hier in dessen Präsensform: ein Zuhören bezeichnend, das dekolonisieren (könnte). Die zusätzliche Nutzung eines Fragezeichens soll uns an die Notwendigkeit des kontinuierlichen Hinterfragens von Prozessen erinnern.
Im Folgenden möchte ich drei Arten des Zuhörens vorschlagen, die ein dekolonisierendes Zuhören charakterisieren könnten. Ich werde mich dabei auf Literatur aus den Bereichen Kunstpädagogik, Klangkunststudien und Aktivismus sowie auf die kritische Ethnomusikologie beziehen.
Zuhören mit Schwierigkeiten und Verunsicherungen
Der erste Versuch, ein mögliches dekolonisierendes Zuhören zu charakterisieren, ist das unsichere Zuhören, ein Zuhören mit Schwierigkeiten, das ich anhand von Nora Sternfelds Verlernen Vermitteln aus dem Jahr 2014 betrachten möchte. Es handelt sich dabei um einen Artikel, der auf einem Vortrag basiert und im Rahmen der Reihe Kunstpädagogische Positionen veröffentlicht wurde. Die Reihe beleuchtet verschiedene Ansätze und Standpunkte in der Aus- und Weiterbildung von Kunstpädagogik und Kunstunterricht.
Angelehnt an Spivaks (1993) Plädoyer aus den postkolonialen Theorien, unser Lernen und unser Privileg zu verlernen, entwickelt Sternfeld eine Idee des Verlernens in kunstpädagogischen Kontexten. Sternfeld plädiert dafür, dass wir lernen müssen, das zu verlernen, was wir als relevant erlernt haben, und das, was wir als irrelevant erlernt haben. Durch das Hinterfragen von Macht-verhältnissen, einschließlich des Machtverhältnisses, das durch den Akt des Lernens selbst ausgeübt wird, können die vorherrschenden Methoden des Lernens und der Aneignung dessen, was als Wissen bezeichnet wird, in Frage gestellt und unterbrochen werden. Es müssen demnach die Art und Weise, wie etwas gelehrt oder vermittelt wird, der Gegenstand, der gelehrt oder vermittelt wird, und die Person, die diesen Unterricht erteilt, hinterfragt werden: »So scheint das Wort ›Vermittlung‹ zu implizieren, dass es da um etwas Konkretes, vorher Existierendes, klar Umreißbares geht, das vermittelt werden könnte [...] dass es da jemanden gibt, der das zu Vermittelnde vorher kennt« (Sternfeld 2014:9).
Ich schlage vor, dass die Vorstellung, dass etwas Vorhandenes und Feststehendes derart Gewicht und Bedeutung hat, durch Zuhören in Frage gestellt werden kann. Die Person, die für die Vermittlung von Wissen verantwortlich ist, kann damit beginnen, ihre bereits bestehenden und festen Vorstellungen davon, was und wie Wissen zu vermitteln ist, zu verlernen. Möglich wird dies durch die Akzeptanz von Schwierigkeiten und Unsicherheiten mit Blick auf das Verständnis von Werten und Bedeutungen, wenn wir ihnen im Kanon, in Klassenzimmern, im Organisieren von Veranstaltungen und darüber hinaus begegnen.
Als ich dies meinen Studierenden an der Humboldt-Universität zu Beginn des Wintersemesters 2019 zum ersten Mal vorschlug, waren einige von ihnen ziemlich beunruhigt: »Müssen denn alle die Art und Weise verlernen, wie sie zuhören?« – Stille im Raum, angehaltener Atem. Ich verziehe das Gesicht und sage: »Ja, eigentlich schon.« Jede*r muss sich damit abfinden, dass ihre*seine feste Vorstellung von Wissen, Relevanz, Irrelevanz, Macht und Inkompetenz irgendwie verunsichert wird. Es geht nicht darum, zu vergessen und zu löschen, sondern vielmehr darum, Platz für andere, sonst marginalisierte Kenntnisse und Perspektiven zu schaffen.
Die in Mumbai lebende Klangkünstlerin Farah Mullah zeigt dies in ihrem Kunststück namens Concerts of Power sehr gut. Das Stück nimmt Geräusche von einer Straße in Mumbai sowie Zugdurchsagen auf und spielt sie in einem Galerieraum ab, den die Künstlerin als »Instrument der Macht« (Mullah 2014) beschreibt. Die Galeriebesucher*innen, die Zuhörer*innen werden durch ein Megaphon, das traditionell für Durchsagen und Anweisungen verwendet wird, zu aktivem erzwungenem Zuhören aufgefordert. Sie werden gezwungen, auf Geräusche und Stimmen zu hören, die man in diesem Galerieraum normalerweise nicht erwartet. Die durch das Megaphon kommenden, externen Geräusche existieren gleichzeitig mit den Geräuschen und Stimmen der Galerie. Letztere werden durch den importierten Lärm beeinflusst und daher verändert oder verschleiert und Erstere in einen Raum gestreut, in dem sie normalerweise nicht vorkommen würden. In Mullahs Stück stehen die Verwendung traditioneller Harmonien, in Form von Filmmusik, die auf der Straße zu hören ist und jetzt als Teil des Straßenlärms in die Galerie dröhnt, repräsentativ für Nostalgie und Erinnerung, welche wichtige Komponenten in dem Konzept des (Ver-)Lernens sind. Ganz im Gegenteil zur Idee des Vergessens geht es hier darum, mehrere Schichten von Wissen und Erinnerung nebeneinander bestehen zu lassen, wenn auch mit den dazugehörigen Schwierigkeiten.
Indem wir akzeptieren, dass »Unerwartetes geschieht« (Sternfeld 2014: 2), und indem wir dem Unerwarteten zuhören und feste Vorstellungen davon verlernen, was denn nun unsere Aufmerksamkeit verdient und was nicht, könnten wir einen Schritt in Richtung einer vorsichtigen Dekolonisierung des Zuhörens wagen.
Aber können wir dem Unerwarteten und Unbekannten noch zu-hören, wenn es nicht durch ein Megaphon, sei es metaphorisch oder anderweitig, verstärkt wird? Woher wissen wir, worauf wir hören, wenn es uns nicht aktiv aufgezwungen wird, oder wenn es still ist?
Der Resonanz zuhören: relationales Hören
In meiner informellen Forschung über die Art und Weise, wie weibliche* Musikerinnen* of Colour in der elektronischen Berliner Musikszene ihr Umfeld verhandeln, stieß ich auf drei Verhaltensweisen, die regelmäßig angewandt wurden, um mit verschiedenen Formen von Diskriminierung, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und persönlichen sowie gesundheitlichen Problemen umzugehen:
Ausdehnung – von Ressourcen, Zeit und Fähigkeiten und die Möglichkeit, die eigene Fähigkeit zu erweitern, um mehr zu erreichen, sowie die Frage, wie sich dies auf ihre künstlerische Arbeit auswirkt
Ablehnung – der Machtstrukturen und Normen, von denen sie letztlich abgelehnt wurden, und die Entscheidung für alternative, selbst geschaffene Räume
Ausdauer & Aushalten – fleißig und geduldig für minimale Fortschritte arbeiten, während sie angesichts eines endlosen Kampfes erschöpft weiterarbeiten
Die Lektüre von The Force of Listening (2017) von Lucia Farinati und Claudia Firth erinnerte mich an die Idee der Ausdehnung. Hier geht es nicht nur um die oben beschriebene Möglichkeit, die eigene Fähigkeit zu erweitern, sondern um eine Ausdehnung im Sinne von Reaktionen und Entgegenkommen, um eine Annäherung an das Verständnis des anderen. Ein weiteres Merkmal eines zaghaften dekolonisierenden Zuhörens ist deswegen relational und reaktionsfähig.
Für The Force of Listening führten Farinati und Firth eine Reihe von Interviews mit Künstler*innen, Aktivist*innen und Sozial-arbeiter*innen. Das Buch enthält konstruierte Gespräche aus den Interviews, die sich mit den folgenden aufkommenden Themen-feldern beschäftigen: Praktiken des Zuhörens, Feminismus und Bewusstseinsbildung, kollektives Zuhören, Zuhören und Kollektivität sowie Resonanz und Anerkennung.
Zuhören ist ein relationaler Prozess – ein Prozess mit zwei (oder mehr) Wegen. Zuhören ist eine Reaktion auf jemanden oder etwas, das spricht, um einen Raum zu schaffen. Zuhören ist ein Austausch zwischen Hören und Gehört-Werden, und mit jedem Austausch erweitert sich der gemeinsam geschaffene Raum. In dem Maße, in dem sich die Fähigkeit des Zuhörens ausweitet, werden mehr Stimmen, mehr Schweigen und mehr Anwesenheit zugelassen und aufgenommen.
Eine schöne Beschreibung hierzu findet sich in Claudia Firths Kommentar:
»Ich denke, dass Solidarität auf ihrer grundlegendsten Ebene als eine Form der Gegenseitigkeit, des Zuhörens mit und des jemandem/etwas Zuhörens, verstanden werden kann. Wenn wir darüber nachdenken, wie feministische Consciousness-Raising-Groups funktionierten, dann haben die Dinge, die Frauen über ihre eigenen Erfahrungen sagten, bei anderen Resonanz gefunden. Man erkannte in dem, was jemand anderes sagte, etwas Gemeinsames, etwas, das über die individuelle Ebene hinausging. Diese Resonanz schien mit der Anerkennung der Einzelnen als Teil der Gruppe und der Gesellschaft einherzugehen, indem sie ihnen half, die gemeinsamen Bedingungen zu erkennen und dies sie befähigte, die Dinge zu ändern, entweder einzeln, in ihrem eigenen Leben oder gemeinsam in politischen Kampagnen und Aktionen. Es ist vielleicht ein Klischee, aber Solidarität kann ein Gefühl der Stärke erzeugen, das einen mehr als anderes zum Handeln führt« (Farinati/Firth 2017: 155).
Obiges Zitat beschreibt aus meiner Sicht die Ausdehnung der eigenen Person, um Bedürfnissen anderer entgegen zu kommen; anhand unserer eigenen Ermächtigung – unserer eigenen Kraft – gehört zu werden. Daraus kann Solidarität und eventuell eine Umverteilung der Macht resultieren. Die Klangkunst- und Aktivist*innen-Gruppe Ultra Red, die in die Interviews für das Buch einbezogen wurde, sieht dies als ein Schlüsselmotiv für ihre Arbeiten.
Ultra Red bestand ursprünglich aus einer Gruppe von Klangkünstler*innen und Aktivist*innen, die »einen fragilen, aber dynamischen Austausch zwischen Kunst und politischer Organisierung« (Ultra Red 2000) anstreben. Sie versuchen, soziale Räume mit Hilfe von Klängen zu kartieren. In verschiedenen Versionen führt die Gruppe Bildungsprojekte durch, darunter RE:ASSEMBLY, eine Zusammenarbeit zwischen Ultra Red und Schüler*innen und Lehrer*innen der St Marylebone Church of England School in London, die im Rahmen des Edgware Road Projekts der Serpentine Gallery präsentiert wurde. Das Endergebnis war eine Oper, die sich mit der erweiterten Gemeinschaft und Umgebung der Schule in der Edgware Road befasste.
Die Schüler*innen gingen von folgender Frage aus: Was ist der Klang einer Staatsbürgerschaft? Sie hörten der Schule, der Umgebung, der Stadt und sich selbst gegenseitig zu, um über den Begriff der Staatsbürgerschaft, sowohl staatlich als auch gesellschaftlich nachzudenken sowie darüber, wie sie durch Regeln, Vorschriften und soziale Normen beeinflusst werden. Janna Graham, eine im Vereinigten Königreich ansässige Forscherin und Praktikerin mit Schwerpunkt auf dem Educational turn im Kuratieren, war federführend an dem Projekt beteiligt und nahm auch an den Gesprächen in The Force of Listening teil.
Die Schüler*innen gestalteten hieraus die Songs for Edgeware Road. Gemeinsam reagierten sie auf und reflektierten sie die Stimmen und Ideen der Gemeinschaft und der Umgebung, der sie zugehört hatten. Diese Art der Ausdehnung eigener Fähigkeiten und des relationalen Zuhörens schufen Raum für ein erweitertes Zuhören und Solidarität.
Firth stellt die Frage »Wie wird ein Beziehungsraum geschaffen?« (Farinati/Firth 2017: 161f). Farinati bezieht sich auf Jean-Luc Nancy, um die von Firth gestellte Frage zu beantworten:
»In Bezug auf die Klangerfahrung wird ein Beziehungsraum nicht einfach durch Klang geschaffen, sondern durch Affekt und Resonanz. Und wenn akustische Resonanz durch die menschliche Stimme erzeugt wird, könnte man weiter argumentieren, dass Resonanz die verkörperte Qualität des Zuhörens ist. Das schwingende, ›resonante Subjekt ist niemals rein selbstreferentiell, ist weder ich noch der andere, sondern immer das Ergebnis der Resonanz selbst‹« (Nancy, Jean-Luc. Listening zit. nach Farinati/Firth 2017: 161f.).
Ein ›resonierendes Subjekt‹, ein aufmerksames, zuhörendes Subjekt, kann durch gegenseitiges Zuhören einen Beziehungsraum schaffen, der wiederum Raum für eine Vielzahl von Stimmen bietet. Wie können wir also sicherstellen, dass wir aufmerksam genug zuhören?
Den Nuancen zuhören
Angesichts der Schwierigkeiten und Unsicherheiten und der Aufforderung, auf das Gehörte zu antworten und zu reagieren, um Raum für den Austausch zu schaffen, müssen wir uns auch davor hüten, auf das zu hören, was wir automatisch zu hören glauben und stattdessen auf Nuancen achten.
In dem 2015 erschienenen Buch Modernity’s Ear: Listening to race and gender in world music nutzt Kheshti ihre Erfahrungen als Praktikantin bei einer globalen Musikfirma, um eine Diskussion über elektronische Weltmusik als ein konstruiertes Genre mit einem sehr spezifischen Publikum zu führen: weißen Frauen mittleren Alters. Kheshti erörtert den Begriff der Aural Fantasies, und ich schlage vor, dass der Versuch einer Dekolonisierung des Zuhörens die Anerkennung derselben und anschließende Subversion erfordert.
»Das Begehren des Hörers oder der Hörerin wird das hören, was sie begehren« (Kheshti 2018: 51).
Kheshti bezieht sich auf Lacans Theorie des object petit a, des Teils des Ichs, der sich im Begehren in Bewegung setzt. Nach Lacan können sich die Ohren im Bereich des Unbewussten niemals schließen. »Während Sich-Sehen-Lassen durch einen Pfeil angezeigt wird, der eigentlich zum Subjekt zurückkehrt, geht das Sich-Hören-Lassen zum Anderen« (Kheshti 2018: 51). Kheshti verwendet dieses Beispiel, um zu argumentieren, dass das Ohr der Weltmusikkonsument*innen verdinglicht (oder trainiert) wurde, um zu funktionieren. Das heißt, das Ohr, die*der Hörer*in, die*der Konsument*in ist darauf konditioniert, eine bestimmte Sache zu hören. Kheshti zeigt ein Transkript des männlichen Leiters der Plattenfirma, Jon Cohen, der von einer Radiomoderatorin, Nancy Dayne, interviewt wird:
»Cohen hat soeben einen dreißigsekündigen Ausschnitt aus einer aktuellen Veröffentlichung von Zyzzy, der in Amsterdam ansässigen Band um die brasilianische Sängerin Raquelle Aveiro, vorgespielt.
Nancy Dayne: Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, denn Sie wissen, dass ich nichts über diese Dinge weiß. Aber Sie sagten Hip-Hop. Ich spüre das. Natürlich höre ich hier den brasilianischen Rhythmus, aber ich fühle auch afrikanische Rhythmen durchkommen.
Jon Cohen: Ja, absolut. Der Rhythmus in diesem Lied, das Peregrino heißt, was Portugiesisch für Pilger ist, stammt von einem Musikstil namens Afro-Beat, der durch den großen nigerianischen Künstler Fela Kuti bekannt wurde. Der Song ist eine Art Hommage an ihn. Der Rhythmus, den du hörst, ist definitiv afrikanisch. Du weißt also nicht gar nichts, [Nancy], du lernst« (Kheshti 2018: 52).
Kheshti argumentiert, dass »African Rhythm« (Kheshti 2018: 52) Nancys Wunsch ist. Wenn sie mit anderen Musiken konfrontiert wird, hört sie immer noch nur diese eine. Außerdem verschluckt der Begriff ›afrikanischer Rhythmus‹ die Vielfalt, die Heterogenität und die Nuancen der verschiedenen Arten von Musik.
In einem zweiten Ausschnitt aus einem anderen Radiointerview spielt der Inhaber der Plattenfirma Kora-Musik aus der malischen Bluestradition. Und auch hier lässt die Radiomoderatorin ihre akustische Fantasie nicht los:
Jon Cohen: Auf der Kora hört man die harfenähnliche Textur des Instruments, aber es hat natürlich auch eine sehr afrikanische Note.
Nancy Dayne: Ja, aber ich denke immer, dass afrikanische Musik sehr beat- und perkussionslastig ist. Das hier fühlt sich eher an wie eine blues-artige, jazzige Melodie, die sie antreibt.
Jon Cohen: »Auf jeden Fall. Ich glaube, falls du dich daran erinnerst, dass dies eines der Dinge waren, über die wir sprachen, als wir Desert Blues gemacht haben. Die Leute denken bei afrikanischer Musik an diese treibende Musik, bei der man aufsteht und tanzt, aber in Wirklichkeit hat sie auch eine sehr introspektive Seite, und es gibt eine Verbindung zum Blues, und der Blues ist eng mit dem Jazz verbunden, und das ist sozusagen der Weg, der diese Zusammenarbeit so sinnvoll macht« (Kheshti 2018: 53).
Kheshti argumentiert, dass selbst unter Beweis, dass es eigentlich anders ist, die Nuancen ignoriert werden und die akustische Fantasie die Oberhand gewinnt. Wenn Nuancen ignoriert werden, entstehen mehr Stereotypen. Wenn mehr Stereotypen entstehen, wird nicht aufmerksam zugehört und somit werden Bedürfnisse ignoriert, Wünsche außer Acht gelassen und Wissen unterdrückt, weil die Menschen nicht gehört werden.
Um dies zu verdeutlichen, möchte ich mich von der Bequemlichkeit von Galerien, Schulen und Kunsterziehung entfernen und mich mit den immer häufiger auftretenden Problemen der Voreingenommenheit in der Medizin befassen.
In einem Radiobeitrag mit dem Titel Wann & warum Frauen und People Of Colour mit einer schlechteren Gesundheitsversorgung und schlechteren Gesundheitsergebnissen konfrontiert sind, bezieht sich Dr. Colene Arnold auf eine Studie, aus der hervorgeht, dass »bei Frauen, die sich mit Beckenschmerzen vorstellen, bei weißen Frauen eher die korrekte Diagnose Endometriose gestellt wird, während bei Schwarzen Frauen eher eine entzündliche Beckenerkrankung (PID) diagnostiziert wird, die [...] oft sexuell übertragen wird« (The Exchange 2019). Hier behindert die Fantasie – das Stereotyp der hypersexualisierten, starken Schwarzen Frau – auf gefährliche Weise die Fähigkeit der Ärzt*innen, sich die Schmerzen der Frauen anzuhören. Stereotype nicht zu reproduzieren und auf Heterogenität zu achten, kann also tatsächlich Leben retten.
Den Nuancen zuhören und so einen Schritt in Richtung eines dekolonisierenden Zuhörens wagen, wie es hier diskutiert wird, kann sicherstellen, dass festgelegte Vorstellungen von Wahrheit nicht die tatsächlich vorhandenen Realitäten und Bedürfnisse behindern.
Ein dekolonisierendes Zuhören:
Zuhören als Risiko
»Zuhören ist riskant, denn das, was wir hören, könnte von uns Veränderungen verlangen, und Veränderungen können schmerzhaft sein« (Farinati/Firth 2017: 160).
So klingt der Versuch eines dekolonisierenden Zuhörens:
Es ist keine leichte Aufgabe, aber als Pädagog*innen, Künstler*innen, Forscher*innen, Kulturschaffende und Lernende haben wir die Verantwortung, es zu versuchen. Und ich werde das D - Wort in Bezug auf das Zuhören weiterhin mit Vorsicht verwenden, da ich es als ein Mittel betrachte, um Autonomie zu erlangen, Raum für marginalisierte Perspektiven zu schaffen und die Akzeptanz neuer Realitäten zu erzwingen.
Zum Begriff bodymind siehe auch Harder in diesem Band, v.a. Seite 175, Fußnote 3.
Ich beziehe mich auf Staci K. Haines somatische Trauma-Definition, wonach Trauma eine
(Reihe von) Erfahrung(en) und/oder Auswirkungen sozio-kultureller Bedingungen ist, die die
Erfahrung inhärenter Sicherheit, Zugehörigkeit und Würde (zer-)stören (vgl. Haines 2019: 74).
Dabei bezieht sich dieser Text auf einen politisch/relationalen Trauma-Begriff nach Angela Carter (vgl. 2021: 14ff.), wonach eine Vielzahl von Traumata als Effekt von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen zu betrachten und daher nicht individuell zu ›heilen‹ ist, auch wenn die Fokussierung auf individuelle bodyminds, die Traumata in ihren Geweben tragen, im Kontext ›engagierter‹ Bildungsarbeit zentral ist. Zum Begriff Trauma siehe auch Harder in diesem Band, v.a. Seite 178f.
Pleasure wird hier im Sinne eines verkörperten ›Ja‹ begriffen, als somatischer Hinweis auf Möglichkeitsräume und nicht in einem sexualisierten Sinn. Siehe Harder in diesem Band, Seite 173f.
Zu den Begriffen trans*, inter* und nicht-binär vgl. Akademie der bildenden Künste 2019.
Zu queer vgl. Fragner in diesem Band, Seite 232f.
Zu crip siehe Harder in diesem Band, Seite 175, Fußnote 4. Zu trans*formativ siehe ebd.,
Seite 174, Fußnote 2. Der Workshop Crip Crip Hurrah! fand im Rahmen des Festivals Platz für
Farinati, Lucia/Firth, Claudia (2017): The Force of Listening. Berlin.
Kheshti, Roshanak (2015): Modernity’s Ear. New York.
Kyoungwon Lee, Peggy/Oliveira, Pedro/Osman, Shanti Suki/Thompson, Marie (2022): A Conversation on Race, Sound, and the Im/possibility of Decolonised Listening. In: Salim Ismaiel-Wendt, Johannes/Schoon, Andi (Hg.): Postcolonial Repercussions. Bielefeld: 45–58.
Mawhinney, Janet Lee (1998): »Giving up the ghost«: Disrupting the (re)production of white privilege in anti-racist pedagogy and organizational change. Masters Thesis, Ontario Institute for Studies in Education of the University of Toronto.
Robinson Dylan. (2020): Hungry Listening: Resonant Theory for Indigenous Sound Studies. University of Minnesota Press.Spivak, Gayatri (1993): Outside in the Teaching Machine. New York/London.
Sternfeld, Nora (2014): Verlernen Vermitteln. Kunstpädagogische Positionen 30. Köln.
Tuck, Eve/Yang, K.Wayne (2012): Decolonization is not a Metaphor. In: Decolonization: Indigeneity, Education & Society 1 (1): 1–40.
Website der Farah Mullah (2014). URL: https://farahmulla.wixsite.com/farah-mulla-/copy-of-question [02.10.2022].
Website von The Exchange (2019). URL https://www.nhpr.org/the-exchange/2019-09-16/when-why-women-people-of-colour-face-lower-quality-healthcare-worse-health-outcomes#stream/0 [02.10.2022].
Website von Ultra Red, (2000). URL: http://www.ultrared.org/mission.html [02.10.2022].