Yemisi Babatola, Melli Erzuah und Mariama Sow
In diesem Text reflektieren die Autor*innen im Gespräch einen Online-Empowerment-Workshop, den sie 2021 entwickelt und realisiert haben. Unter dem Titel Imagination radikaler Orte. Kunst und Lehr-Lernräume jenseits des weißen Blickes bot der Workshop Raum für Fragen wie »Was würden wir in Kunst-, Lehr-/Lernräumen tun, wenn koloniale Strukturen und ein weißer rassistischer Blick nicht existieren würden? Was passiert jenseits der Reaktion, wenn wir UNS zentrieren?« Dabei fokussierten die drei körperlich-kreative Methoden im Hinblick auf utopische, radikale und kreative Versionen von Zukunft. Im gemeinsamen Rückblick auf ihre Erfahrungen geht es u. a. darum, was sie voneinander und gemeinsam lernen konnten.
Vor über einem Jahr wurden wir eingeladen, einen Online-Empowerment-Workshop für BI_PoC im Rahmen des Festivals Platz für Diversität!? zu konzipieren und umzusetzen. Die Idee war, einen safer space für Menschen mit Rassismuserfahrungen an Hochschulen zu schaffen, um sich über diese geteilte Erfahrung austauschen zu können. Wir selbst sind und waren Teil von unterschiedlichen Hochschulstrukturen als Studierende/Mitarbeitende/Lehrende und wissen aus Erfahrung, wie gewaltvoll und traumatisierend diese Räume für nicht weiße Menschen in Deutschland sein können. Die Menge an Baustellen und Lücken, die sich im Kontext von Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen ergeben, sind erdrückend und frustrierend.
Also, wo sollen wir anfangen? Vielleicht ganz woanders? Erstmal bei uns und dem, was wir brauchen, was uns bestärkt und Halt gibt. Wir wollen die Zukunft und andere Orte für uns selbst imaginieren.
Im Gespräch reflektieren wir gemeinsam über den BI_PoC Em-powerment Workshop Imagination radikaler Orte und teilen unsere Gedanken, Ideen und Perspektiven der Erarbeitung, sowie Nachbereitung des Workshops. Wie ist es zu diesem Workshop gekommen? Welche Ideen und Ausgangspunkte hatten wir? Welche Methoden haben wir angewendet und was konnten wir selbst voneinander und gemeinsam lernen?
Melli: Ein geschlossener Raum für BI_PoC. BI_PoC steht für Black – Schwarz, Indigenous, und People of Colour. PoC ist z. B. ein Bündnisbegriff. BI_PoC benennt einige von vielen politischen und aktivistischen Selbstbezeichnungen von und für Menschen, die selbst unterschiedliche Formen von Rassismus erfahren und ihre Realität darin benennen möchten. Der Unterstrich zeigt, dass es Platz gibt für die Komplexität unserer Biografien und Geschichten im Dazwischen.
Yemisi: In einem Raum, der Kunstschaffende, Bildungsarbeiter*innen und Angehörige von Kunsthochschulen einlud, legten wir in unserem Workshop den Fokus auf unsere Unterschiedlichkeit. Manche Teilnehmende positionieren sich studierend, manche referierend, manche queer, manche cis, manche trans*, Schwarz, PoC und viel mehr und gleichzeitig eint die Teilnehmenden die kollektive Erfahrung rassistischer Diskriminierung in der Gesellschaft generell und im Kunst- und Kulturbereich spezifisch. Wir haben als Workshopleiter*innen früh gemerkt, dass es eine Herausforderung darstellt, Menschen einzuladen, Lösungswege jenseits von Diskriminierungserfahrungen zu imaginieren. Wir erkannten eine Chance in diesem Dilemma und legten den Fokus auf kreative und traumasensible Methoden.
Melli: Viele von uns im Raum erzählten vom Druck, viel und schnell zu produzieren, durch eine eurozentrische Linse bewertet zu werden oder sich auf dem Markt zu positionieren, um Geld zu verdienen. Was bleibt also von der Leidenschaft zur Kreativität? Denn der Fokus liegt außen und nicht auf dem, was sich in uns bewegt und ausgedrückt werden will. Also war es unsere Intention, einen Raum zu erträumen und sinnlich spürbar zu machen, der uns frei fühlen lässt. Wir wollten herausfinden, was passiert, wenn wir uns nach innen fokussieren, eben indem wir radikal imaginieren!
Mariama: Aus der Anti-Diskrimierungsarbeit in Hochschul-kontexten kennen wir das Problem, dass Prozesse oft immer wieder an denselben Fragen und Auseinandersetzungen stagnieren und nicht weiterkommen. BI_PoC werden dabei an der Arbeit, Bildung, künstlerischen Auseinandersetzungen und Schaffungsprozessen gehindert, indem weiße Menschen Diskurse blockieren. Es werden immer wieder dieselben Fragen gestellt, Fakten wollen nicht verstanden werden oder es werden immer weitere Erklärungen und Rechtfertigungen von BI_PoC eingefordert. Das alles kostet viel Zeit und Energie. Eigene Themen kommen zu kurz oder werden gar nicht erst entwickelt, weil alle Kapazitäten in weiße Diskurse und in den Versuch, diese zu verändern, fließen. Aus dieser Lücke, dem fehlenden Raum und der fehlenden Zeit für Auseinandersetzungen mit und für uns selbst, kam die Idee dieses Workshops mit dem Titel Imagination radikaler Orte zusammen.
Yemisi: Radikale Orte imaginieren ergab für uns die Möglichkeit, diesem oben geschilderten Dilemma mit einer Methode zu begegnen – mit der Konzeption und Anleitung einer Traumreise. Der Wunsch nach intersektionaler Bildungs- und Empowerment Arbeit, die auch traumasensibel ist und den Fokus auf healing while doing setzt, war es uns allen wichtig, diese radikalen Bilder zu entwickeln, möglichst ohne in den eigenen oder den Leidenserfahrungen anderer verharren zu müssen. Mit der Methode Traumreise konnten wir gemeinsam in der Stille üben, gleichzeitig bei sich zu sein und Verbundenheit mit den anderen zu spüren und Bilder der gesellschaftlichen Befreiung heraufbeschwören.
»It would have been only a matter of time before we could no longer remember a way into our futures. Our memory was only a matter of time. To save memory, it was time to stop living only within the time we’d been given. Where the notes of memory and time make a chord, do we hear the answers to the whys of this world, or do we hear the tones that tell us the world we see is not the only one – that the escapes we yearned for might exist in this one line of time, in this single, part-seen world?
Beyond time and memory – where the computer cannot reach – is dreaming« (Monaé 2022).
Melli: Wir imaginieren, weil wir damit an die Tradition Schwarzer Kreativer, die vor uns kamen und für politische Befreiung kämpften, anknüpfen. Sie imaginierten mit ihrer Kunst neue Orte, folgten einer Vision, die sie dann in die Welt brachten. Zum Beispiel sagt Ingrid LaFleur (Kurator*in und Afrofuturist*in) dazu: »I generally define Afrofuturism as a way of imagining possible futures through a black cultural lens« (LaFleur 2011: 9).
Yemisi: Die Traumreise wurde online durchgeführt, alle waren an ihren Bildschirmen und konnten den Komfort ihres privaten Raumes genießen. Die Reise enthielt verschiedene Teile. Alle Teile waren von einer audiovisuellen Installation begleitet, die Mariama konzipiert hat, und auf dem Bildschirm spielte, während die Reise angeleitet wurde. Die audiovisuelle Installation ist ein methodisches Hilfsmittel, das ein traumasensibles Eintauchen, ohne den Druck, die Augen verschließen zu müssen, ermöglicht. Zum gemeinsamen Ankommen machten wir eine Körperwahrnehmungsübung…
»Stell Dir vor, du hast eine schöne Lampe über Deinem Kopf, eine kleine Nachttischlampe, die ein wärmendes Licht auf Dich scheint.«…die dann in einen kreierten, radikalen Ort in Form einer Waldlichtung überging. Das war unser gemeinsamer Raum, ein schöner warmer Wald, in dem wir uns mit unserem Baum, den Wurzeln und unseren Mitreisenden verbinden konnten.
Von dort aus begann dann eine individuelle Reise in eigene Sinneswelten. In immer neuen Räumen und Orten wurde mittels Fragen erörtert, was sich besonders, spannend und neu anfühlt und unbedingt mitgenommen werden muss von der Reise.
»Nimm Dir die Zeit, sie wahrzunehmen, diese neuen Orte und Möglichkeiten. Es scheint fast so, als würde es sich dort besser leben lassen. Nun bemerke, dass ein Ort Dir ganz besonders auffällt. Wie erkennst du diesen Ort? Ist es ein Bild, das Dich anzieht, eine Musik, die du hörst, ein Duft? Stell Dir diesen Ort genau vor und begib Dich hinein. Wie bewegst du Dich? Wie bewegt sich der Ort um Dich herum?«
Viele der entstandenen Eindrücke konnten sich die Reisenden mittels Visualisierungen von Fotos in einem imaginierten Köfferchen zurück in den gemeinsamen virtuellen Raum nehmen. Sie konnten diese zudem nach Bedarf erst allein schriftlich festhalten und dann miteinander teilen. Nach einer Pause haben wir dann die Eindrücke noch einmal reflektiert und versucht, zu kategorisieren.
Melli: Unsere Bäume aus dem Wald in der Traumreise waren unsere stetigen Begleiter*innen. Wir nahmen die Struktur eines Baumes als Metapher, um unsere Eindrücke zu reflektieren. Die Wurzeln sollten uns daran erinnern, was uns Halt und Kraft gibt; das, was uns nährt. Die Krone ist unser Ausdruck: was wir uns wünschen und erträumen, also radikal imaginieren, und wie wir uns ausdrücken wollen. Der Stamm ist die Kommunikation zwischen Wurzeln und Krone, all das, was durch uns fließt, uns begeistert, inspiriert und Freude gibt. So wie der kreative Flow, der auch durch uns fließt. Die Rinde ist natürlich, was unseren Ort schützt, sodass wir uns frei und sicher fühlen können, während wir uns in die Weite der Imagination begeben. Während des Workshops haben wir uns immer wieder auf diese Metapher besonnen und diese neu erkundet.
Mariama: Ein Video begleitete die Traumreise mit Visualisierungen der Orte und den verschiedenen Ebenen dieser Methode. Bilder und Sounds von Bäumen und Wäldern leiten die Meditation und Traumreise ein. Ein Portal in Form einer Farbe öffnet sich und lädt ein, eine andere Welt zu erleben. Verbindungen schaffen Brücken zwischen dem Wald und dem outer space und signalisieren uns, dass wir jeder Zeit zurückkehren können und miteinander verbunden bleiben. Wir reisen in Sun Ras Spaceship auf andere Planeten und erkunden dort neue Orte und ihre Bildungseinrichtungen.
»Wir sind in der Zukunft.... Die weiße, patriarchale, rassistische, koloniale und heteronormative Dominanzgesellschaft ist abgelöst«.
Was passiert an diesem Ort? Was siehst du? Was wollen wir tun und wie wollen wir es möglich machen?
In unseren vorbereitenden Gesprächen haben wir auch einen kritischen Blick auf Bildungseinrichtungen gelegt, die sich mit Diversity und Anti-Rassismus-Kampagnen (zum Beispiel Schule ohne Rassismus) nach außen hin präsentieren, nach innen hinein aber noch lange nicht dort angekommen sind. Dieses Phänomen, dass weiße /deutsche Institutionen behaupten, bereits in einer Zeit ohne Rassismus angekommen zu sein, erlaubt es, die eigentlichen Prozesse, die dafür nötig sind, zu blockieren.
Deshalb ist es so wichtig, über die Zukunft zu sprechen und Räume zu imaginieren, die nicht von einem white gaze dominiert und blockiert werden. Der Empowerment-Workshop sollte also auch ein Versuch sein sich eine Utopie der Schule ohne Rassismus aus BI_PoC-Perspektive vorzustellen, als Parallelort in einer anderen Galaxie und Zeit, die außerhalb der unterdrückenden Machtdynamiken existiert.
Yemisi: Es sind schöne Welten entstanden, in denen Kunst, Räume, Orte und Wesen jenseits hegemonialer Strukturen greifbar werden konnten. Vor allem aber waren alle sehr entspannt und konnten, wenn sie sich nicht so sehr auf die Fantasiewelt einlassen konnten, einfach den entspannenden Audios lauschen und sich ausruhen – ein absolut wünschenswertes Ergebnis für einen Empowerment-Workshop.
Melli: Genau! Wie eine Idee im Afrofuturismus sagt: In der Entspannung und im Ausruhen kann sich die Imagination weiten. Wenn es immer wieder Zeitdruck gibt – sei es für Abgaben oder zur Produktion – wird die Fähigkeit zu träumen und sich kreativ frei zu fühlen, eingedämmt. Durch das Imaginieren verschieben wir unser Erleben von Zeitlichkeit. Wir erleben bereits im Hier und Jetzt diese Orte: Dadurch, dass wir sie uns vorstellen und mit den Sinnen spüren können. Und damit werden auch neue Potentiale für die Zukunft freigesetzt.
Mariama: Es geht auch um Heilung und darum auf die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Fragestellungen zu hören.
Melli: Den Zugang dazu zu schaffen, ist mein Verständnis von Empowerment! Denn erst dann habe ich die Möglichkeit, mich authentisch auszudrücken, mich zu akzeptieren und zu lieben und Kunst zu machen, die mich und andere daran erinnert, wie kraftvoll wir sind und dass unsere Leben wichtig sind. Für mich war es sehr empowernd, diesen Prozess mit euch zu gestalten, zu begleiten und gemeinsam zu durchleben.
Mariama: Rückblickend nehme ich den Prozess dieses Workshops, insbesondere auch die Vorbereitungsphase, als empowernd und extrem inspirierend wahr. Die Welten, die wir gemeinsam in einer kollektiven, kreativen Praxis entwickelt haben, die Verbindungen zwischen Bäumen, Wäldern und Spaceships, Portalen in die Zukunft und Paralleluniversen, sind starke Bilder, die noch immer resonieren.
Yemisi: Aus Schwarzer queerer Perspektive einen Empowerment-Workshop kreiert zu haben, in dem ich selbst während des Arbeitens zur Ruhe und ins Träumen kommen konnte und damit eine Arbeitsweise zu pflegen, die Überforderung nicht normalisiert, war eine sehr wichtige Erfahrung und ein radikaler Akt. Es ist mir wichtig, mit queeren, trans, inter und gendernonkonformen BI_PoC zu arbeiten, uns zu priorisieren und Räume für Gedanken und Gefühle zu halten. Es ist mir wichtig, einen Ort zu schaffen, in dem ich selbst vulnerabel und authentisch bin. Es ist mir wichtig, Raum zu schaffen, um gemeinsam mit anderen Teamer*innen Methoden auszuprobieren, bedarfsgerecht anzupassen und zu erweitern. Das alles ist aus meiner Perspektive Teil von Empowerment. Ich konnte mit Hilfe der Methoden, die wir priorisiert haben – Achtsamkeits- und Atemübungen, Körperübungen, Sound, Visuals, Malen und Gestalten – eine Wirksamkeit im Raum mitgestalten, die auch in mir selbst spürbar wurde.
Mariama: Zukunft zu visionieren und sich selbst zu erlauben, als BI_PoC zu träumen, ist Empowerment. Denn in dieser Gesellschaft wird uns diese Fähigkeit abgesprochen.
Dabei sind doch gerade nicht-weiße Menschen Expert*innen und Autodidakt*innen aus persönlichen, komplexen Erfahrungen heraus und deshalb oft schon einige Schritte voraus. Wir kommen aus der Zukunft. Diese afrofuturistische Idee wortwörtlich zu nehmen finde ich persönlich extrem empowernd.
LaFleur, Ingrid: Visual Aesthetics of Afrofuturism. TEDx Fort Green Salon, 25.09. 2011, YouTube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=x7bCaSzk9Zc [17.11.2022].
Monáe, Jannelle (2022): The Memory Librarian: And Other Stories of Dirty Computer. New York.
Website Platz für Diversität?! Festival für diskriminierungskritische Allianzen zwischen Kunst und Bildung
(Workshop). URL: https://ksfestival.lineupr.com/platzfuerdiversitaet/item/empowermentworkshop-imagination-radikaler-orte-fuer-bipoc [17.11.2022].
(Glossar). URL: http://www.platzfuerdiversitaet.org/1/glossar.html [17.11.2022].