Stefan Bast
Ausgehend von einer dicht beschriebenen Unterrichtssituation und den dort genutzten Bildern und Texten, geht der Text Klasse Kunstunterricht! der Frage nach, inwiefern die Ungleichheitskategorie Klasse im diskriminierungskritischen Kunstunterricht thematisiert und einer formal-ästhetisch orientierten Kunstbetrachtung hinzugestellt werden kann. Ziel des Beitrags ist es, aufzuzeigen, wie über die Rezeption von Fotografien im Kunstunterricht über Klassenverhältnisse ins Sprechen gekommen werden kann.
#Klasse #Klassismus #Diskriminierungskritik #Fotografie #Kunstunterricht
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Prolog
2001
Eine westdeutsche Kleinstadt.
Eine Gesamtschule.
Ein Klassenraum.
Kunst Leistungskurs, Klasse 12.
Fotografie.
Stühle werden gerückt, um Platz für die Hospitierenden aus Klasse 11 zu machen. Zwei Freundinnen setzen sich rechts von mir hin. Die Lehrperson, die vor dem Pult steht, begrüßt uns alle mit einem beherzten »Guten Morgen!«. Die Reaktion aus den Mündern der Schüler*innen fällt etwas weniger engagiert aus. Davon unbeirrt beglückwünscht die Lehrperson zuerst die Hospitierenden zu ihrer Entscheidung im Kunst-Leistungskurs zu hospitieren und leitet nahtlos zum Inhalt des Unterrichts über. Sie verweist auf die in der Vorstunde erteilte Hausaufgabe, die darin bestand, einen Text in dem Lehrwerk »Praxis Kunst – Fotografie« über das Bild »Das Zwischendeck« (1907) des Fotografen Alfred Stieglitz zu lesen. Ich werde etwas nervös, denn die geforderte Hausaufgabe habe ich nicht gemacht.
Ich hole das von der Schule zur Verfügung gestellte Buch aus meinem Rucksack und schlage Seite 94/95 auf: Die Doppelseite zeigt links einen Informationstext und rechts die Heliogravüre, auf die sich der Text bezieht. Über dem Text steht in fett gedruckten Buchstaben »Alfred Stieglitz: Das Zwischendeck, 1907«. Wiederum darüber ist der Begriff »Fotoanalysen« zu lesen. Das Papier ist leicht gelblich und der Druck in Graustufen ausgeführt. Unter dem Bild auf der rechten Seite finden sich die Angaben zur Aufnahme von Alfred Stieglitz. Über der Heliogravüre steht »Straight Photography«. Die Fotografie selbst zeigt Menschen auf einem Schiff. Es ist zu wenig Zeit, den Text noch schnell zu überfliegen.
Meine Freundinnen aus Klasse 11 schauen mit in mein Buch hinein. Die Lehrperson fordert den Kurs auf, zu berichten, worum es Alfred Stieglitz beim Erstellen seiner Fotografie gegangen sei. Alle Schüler*innen, die den Text zum Bild gelesen haben, sind nun klar im Vorteil.
Es kehrt verhaltene Stille ein.
Niemand meldet sich.
Vorerst.
Ich blicke auf das Bild und hebe meine Hand. Angespornt durch die hospitierenden Freunde und aus einer scheinbaren Überzeugung heraus, das Bild auch ohne die Information aus dem Text richtig lesen zu können, beginne ich meine Interpretation zu teilen: »Stieglitz zeigt ein von links und einer etwas erhöhten Position aus aufgenommenes Schwarz-Weiss-Foto eines Schiffs mit Passagieren. Man erkennt Teile des Schiffs – eine Brücke, einen Mast – viele Menschen stehen und sitzen auf dem Schiff – sie sind unterschiedlich gekleidet – Stieglitz hat hier ärmere und reichere Menschen fotografiert«, führe ich abschließend aus.
Die Lehrperson hört mir zu und schaut mich an, zieht die Augenbrauen belustigt hoch und erwidert, nachdem ich meine Interpretation abgeschlossen habe, wie schön es doch sei, dass ich den Text scheinbar nicht gelesen hätte, denn darum wäre es Stieglitz nicht gegangen. In Wirklichkeit findet sie das natürlich nicht ganz so schön, dass ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, ist aber auch nicht wirklich verärgert darüber. Der Kurs schmunzelt. Manche lachen kurz auf.
Ich ruckle etwas nervös auf meinem Stuhl hin und her.
Mir wird heiß.
Scham steigt in mir auf.
Mit einem Lächeln versuche ich diese zu vertreiben.
Die Lehrperson blickt zu mir und erklärt, dass es Stieglitz beim Erstellen der Fotografie um die besonderen Formen und Linien, die sich im Bild zu erkennen geben, ging. Das heißt, dass die formale Gestaltung der Fotografie, wie es in der Schule der sogenannten Straight Photography üblich sei, im Zentrum des Interesses dieser Fotograf*innen stünde. Sie blickt zu meinen Mitschüler*innen und fragt, wer noch etwas zu ergänzen habe.
Eine Schülerin meldet sich.
Sie spricht.
Die Worte, die aus ihrem Mund kommen sind ausgewaschen
und unverständlich für mich.
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Der Schüler*, der im Text als Ich sichtbar wird und sich zu einer Interpretation der Heliogravüre verleiten lässt, obwohl er die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, ist nicht (mehr) identisch mit dem Autor* dieses Textes. Vielmehr handelt es sich nach Rosenthal, die im Kontext biographischer Forschung auf das »dialektische[…] Verhältnis[…] von Erleben, Erinnern und Erzählen« verweist, um eine Art »erinnertes Ich« (vgl. Rosenthal 2010:197). Rosenthal zufolge »bestimmt die Gegenwart des Erzählens oder biographischen Schreibens den Rückblick auf die Vergangenheit und erzeugt eine jeweils spezifische erinnerte Vergangenheit.« (ebd. 2010:198). Schon selbst »die Übersetzung einer Erinnerung in die sprachliche Form einer Erzählung oder in eine andere Textform führt zu einer beträchtlichen Differenz zwischen Erinnerung und Erzählung« (ebd. 2010:201). Diese Differenz kann im vorliegenden Text weder dezidiert in den Blick genommen (Rosenthal schlägt hierzu ein spezifisches methodisches Vorgehen vor), noch aufgelöst werden (vgl. ebd. 2010:201). Über die im Folgenden Verwendung findende Bezeichnung »erinnertes Ich« soll trotzdem stets transparent bleiben, dass es sich um gegenwärtige spezifische und geordnete Erinnerung des diskriminierungskritisch informierten Autors* handelt.
Die zuvor geschilderte Situation aus dem Kunstunterricht in der Oberstufe ist ein kurzer Auszug aus einer breit angelegten autoethnografischen Forschung, in der Bildungsprozesse im Kunstunterricht, im Studium der Bildenden Kunst und der Lehre an Schule und Hochschule Gegenstand der Untersuchung sind. Der Materialkorpus der Forschungsarbeit umfasst dabei einerseits »Personal Memory Data« (Chang 2016:75), die in Form von eigens verfassten Texten, erstellten und gesammelten Bildern und neuen Re-Kombinationen von Materialien vorliegen. Andererseits werden auch fachspezifische Bild- und Textmaterialien wie Lehrwerke für den Kunstunterricht, Curricula, Kunstwerke etc. mit in die Untersuchung einbezogen und einer diskursanalytischen Auseinandersetzung zugeführt.
Der Moment der Irritation im Beispiel aus dem Kunstunterricht wird zum Anlass genommen, um im vorliegenden Beitrag zu erörtern, wie Klassenfragen über die Auseinandersetzung mit Kunst – ausgehend von der Fotografie »Das Zwischendeck« von Alfred Stieglitz (vgl. Städelmuseum Frankfurt am Main o.J.) und diese ergänzend durch weitere Positionen – thematisiert werden können und wie eine diskriminierungskritische Lehre an der Schnittstelle Bildung/Kunst gelingen kann. Neben einführenden Erläuterungen zur Methode der Autoethnografie, will der Artikel auch die Differenzkategorie Klasse fassen. In einer klassismuskritischen Perspektive wird die erinnerte Situation analysiert. Neben der Unterrichtsstunde selbst, an der der Autor* des Textes als Schüler* teilnahm, wird auch das behandelte Kunstwerk und der Informationstext zur Heliogravüre im Lehrwerk, auf das sich die Lehrperson im Beispiel bezieht, herangezogen. Hierbei ist interessant, welche Narrative über das Kunstwerk dominant sind und wie mit einer möglichen Mehrdeutigkeit umgegangen wird. Der Text schließt – anknüpfend an den Unterrichtsgegenstand aus dem obigen Beispiel – mit einem Impuls für eine diskriminierungskritische Perspektive auf den Kunstunterricht an.
Da sich diese Analyse mit einem Moment meiner Bildungsbiografie beschäftigt und ich intensiv und auch isoliert auf eine spezifische Unterrichtssituation kritisch eingehen werde, ist mir aus forschungsethischer Perspektive wichtig zu betonen, dass es hier nicht darum geht, einen spezifischen Unterricht oder gar eine Lehrkraft (die ich im übrigen sehr mochte) abzuwerten, sondern dass ich nach Leerstellen frage, die im Sinne einer diskriminierungskritischen Bildung im Kunstunterricht bearbeitet und produktiv gemacht werden könnten. Der Besuch dieses Kurses in der Oberstufe war für mich in meiner Schulzeit eine Art Schutzraum. Ich bin sehr gerne in den Kunstunterricht gegangen – es war ein Ort der weiblich dominiert war und in dem ich als ungeouteter queerer Schüler* so etwas wie Sicherheit im System Schule verspürt habe. Ich habe dort viel gelernt – wofür ich sehr dankbar bin – und nicht zuletzt haben diese Auseinandersetzungen mich, den bildungsbürgerlichfernen Schüler*, zu einem Studium an einer Kunsthochschule geführt.
Autoethnografie – methodische Erläuterungen
Über einen Prozess des »inventorying self«, (Chang 2016:75f.), habe ich Momente in meiner Bildungsbiografie identifiziert, die für die Forschungsfrage meines Projektes von besonderem Interesse sind, weil sie einerseits aus einer diskriminierungskritischen Perspektive mit Fokus auf (Selbst-)Bildungsprozesse spannend sind und andererseits viel über dominante und damit hegemoniale Narrative im Feld verraten. Sie sind weit mehr als eine Bespiegelung des Selbst (wie autoethnografischen Ansätzen manchmal vorgeworfen wird), denn über sie lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse benennen und Ableitungen für Schule, Studium und Unterricht in und mit den Künsten treffen.
Autoethnografische Forschungsansätze finden sich heute verstärkt in den Erziehungs-, Sozial- oder Kulturwissenschaften. Während die Anzahl deutschsprachiger Publikationen hierzu noch überschaubarer ist, sind autoethnografische Herangehensweisen in der anglo-amerikanischen Forschungslandschaft etwas populärer, das zumindest lässt die schiere Zahl englischsprachiger Publikationen erahnen (Ellis, Adams und Bochner 2011, Chang 2016, Denzin und Lincoln 2018). Der Begriff Autoethnografie selbst wurde in den 1970er Jahren erstmals vom »Anthropologen Karl Heider (1975) für die Selbstbeschreibung ethnischer Gruppen hinsichtlich ihrer kulturellen Praxen benutzt. Schon bald darauf verwendete David Hayano (1979) den Begriff für wissenschaftliche Arbeiten von AnthropologInnen, die ihr eigenes Umfeld ethnografisch erforschten« (Kresse 2009:353).
Ellis, Adams and Bochner fassen dabei Autoethnografie als Forschungsmethode wie folgt: »Autoethnography is an approach to research and writing that seeks to describe and systematically analyze (graphy) personal experience (auto) in order to understand cultural experience (ethno) […]« (Ellis, Adams and Bochner 2011:1). Im Zentrum autoethnografischer Forschung stehen somit immer die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, die systematisch analysiert und als Teil einer spezifischen Kultur gelesen werden.
In autoethnografischen Forschungsarbeiten kommen autobiografische und ethnografische Strategien zum Tragen. Einerseits geht es darum, Leser*innen über ein autobiografisches »storytelling« (Chang 2016:55) spezifische Situationen zu vermitteln und ihnen einen Zugang zum Forschungsgegenstand zu ermöglichen. Andererseits sollen dabei dichte Beschreibungen besonderer Ereignisse kultureller Phänomene entstehen, die analytisch gefasst werden und folgend Gegenstand einer theoriegesättigten Reflexion werden. Ziel ist es, ausgehend von den zuerst persönlichen Erfahrungen der Forschenden Erkenntnisse über spezifische kulturelle Praxen zu erlangen. Im Sinne einer visuellen Autoethnografie kann das autoethnografische Schreiben um Formen des Zeichnens, Fotografierens, Collagierens, Filmens usw. ergänzt werden (vgl. Chaplin 2011).
Autoethnografische Forschungsansätze thematisieren häufig Machtverhältnisse in Gesellschaften. Das kann in Anbetracht der Tatsache, dass der Ansatz selbst die größtmögliche Distanz zum Forschungsgegenstand, wie sie in hegemonialen Forschungsansätzen stets betont werden, zugunsten einer größeren Nähe aufgibt, nicht verwundern. Holman Jones und Adams bezeichnen die Autoethnografie gar als queere Methode (vgl. Holman Jones und Adams 2016:195f.). Titel wie »Heteronormativity in a Rural School Community« (Catherine Thompson-Lee 2017) oder »›Spoiled and unspoiled‹: An Autoethnography and Art-based Installation on violence against women and femicide« (Ernestene Sherow 2015), in denen sich die Forschenden kritisch mit Heteronormativität und Sexismus im Feld von Schule und über/mit Kunst auseinandersetzen, sind Ausdruck dieser kritischen Auseinandersetzungen mit bestehenden Machtverhältnissen. Eine autoethnografische und diskriminierungskritische Forschung an der Schnittstelle Kunst und Bildung – konkret zum Kunstunterricht – insbesondere auch mit einem Fokus auf die Ungleichheitskategorie Klasse, bietet sich an.
Klasse und Klassismus
Im Kontext der Auseinandersetzung mit Klasse und Klassismus werden stets verschiedene theoretische Bezugspunkte – in Bezug auf den Klassenbegriff und die Produktionsmittel zuvorderst sicher die grundlegenden Marx'schen Theorien – angeführt. Insbesondere in Forschungsansätzen im Feld der Kunst- und Kulturwissenschaften finden sich zugleich auch prominent Beiträge, die die Überlegungen (über die feinen Unterschiede) des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Konzept des Habitus für ihre Analysen anlegen (vgl. Kemper und Weinbach 2009: 16). Tanja Abou macht in Bezug auf Marx aber zu Recht deutlich, dass Klasse dennoch mehr als die Beziehung zu den Produktionsmitteln bedeute (vgl. Abou 2016: 24). Und auch Kemper und Weinbach betonen, dass insbesondere in den Diskussionen um Klassismus, also der Diskriminierung aufgrund der Klassenzugehörigkeit und -herkunft, ein »eigener Klassenbegriff konstruiert« wurde, der sich von den zuvor genannten unterscheide: »Zum einen wird zwar eine Position der Gruppen, um die es hier vorrangig geht, im Produktionsprozess zum Ausgangspunkt genommen, zugleich geht es aber nie ausschließlich um diese Stellung im Produktionsprozess, sondern immer auch um die Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene« (Kemper und Weinbach 2009:15).
»Prololesben« (Abou 2016:24), Schwarze Arbeiter oder queere Bezieher*innen von Sozialleistungen – sie finden sich alle »mit unterschiedlichen Ausgrenzungserfahrungen […], die sich auch überschneiden« (Kemper/Weinbach 2009:15) und mit dem Konzept der Intersektionalität gefasst werden können (vgl. Crenshaw [1989] 2019), in diesen Personengruppen wieder. Die Ausschlüsse aufgrund der tatsächlichen oder zugeschriebenen Klassenherkunft und/oder -zugehörigkeit dieser oben beispielhaft angeführten Personengruppen sind strukturell (und werden als Klassismus bezeichnet).
Konkret hat die Klassenherkunft und -zugehörigkeit bspw. Einfluss darauf, ob und wie selbstverständlich Schüler*innen Museen (in ihrer Freizeit) besuchen (und dieses Wissen dann wiederum gewinnbringend im Kunstunterricht anbringen können), wie selbstsicher Kinder, Jugendliche und Erwachsene an Projekten der Kulturellen Bildung partizipieren (vgl. Seeck und Bellounar 2020), welche Gründe sie davon abhalten oder aber auch wie naheliegend die Idee für die Aufnahme eines Studiums an einer Kunsthochschule für (junge) Erwachsene ist (vgl. Bast 2023). »[…] Insbesondere wohnungs- und erwerbslose Menschen, Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse« können nicht oder nur erschwert am kulturellen Leben teilhaben und werden so aufgrund einer Klassenzugehörigkeit ausgegrenzt (vgl. Diversity Arts Culture o.J.).
In Wissenschaft, aber auch in den Künsten, ist seit geraumer Zeit eine Zunahme der Auseinandersetzung mit Klasse und Klassismus zu beobachten. Nahezu zeitgleich zu der viel beachteten (autobiografischen) Auseinandersetzung des französischen Soziologen Didier Eribon »Rückkehr nach Reims« (2009), veröffentlichten Andreas Kemper und Heike Weinbach eine deutschsprachige Einführung zu Klasse und Klassismus (Kemper/Weinbach 2009). Weitere Publikationen, die sich in klassismuskritischer Perspektive auch mit den Künsten und/oder Bildung beschäftigen, wie bspw. das Literatur-Projekt »check your habitus« (Dröscher und Fürstenberg 2021), »Klassenfahrt« (Macioszek und Knop 2022) oder auch die Veröffentlichung des Dossiers Klassismus und Kulturelle Bildung (Bast, Damm, Hlukhovych, Menrath und Siebert 2023), verdeutlichen das derzeitige Interesse am Thema. Und auch in die Ausstellungshäuser hat die Auseinandersetzung Einzug gehalten, wie das engagierte und bereichernde Ausstellungsprojekt »Klassenfragen, Kunst und ihre Produktionsbedingungen« aus dem Jahr 2022/2023 (eine Kooperation der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin und der Berlinischen Galerie) zeigt (vgl. Boggasch, Nowak, Schapiro, Wenzel und Witzgall 2022).
Auch wenn diese Diskussionen jüngeren Datums sind, so setzen die Kämpfe um die Anerkennung im Kontext von Klasse aber schon in den 1980er und 1990er Jahren im sogenannten deutschsprachigen Raum ein. Hier waren es vor allem »Prololesben und Arbeiter*innentöchter«, die in den feministischen Mainstream intervenierten (Abou 2016:24). Zuvor forderten in den USA der 1970er Jahre Schwarze Feministinnen wie The Combahee River Collective, »gegen rassistische, sexistische, heterosexistische und klassistische Unterdrückung« zu kämpfen (The Combahee River Collective [1977] 2019:48). Diese Fäden wurden aufgenommen und u.a. fortgeführt von der Schwarzen Pädagogin bell hooks, die »Die Bedeutung von Klasse« (hooks [2000] 2021) aus intersektionaler Perspektive beleuchtet. bell hooks, selbst »voller Leidenschaft« für das künstlerische Tun, resümiert rückblickend auf ihre eigene Situation als junge Schwarze Frau aus einer bildungsbürgerlichfernen Klasse hierzu: Kunst, »(d)as war etwas für Leute mit Geld« und etwas, dem man als Schwarze nach der Erwerbsarbeit nachgehen konnte. (vgl. ebd. [2000] 2021:41). Auch wenn sie hier den Ausschluss entlang von Rassifizierung diskutiert, betont sie dennoch, dass es bei »all den Warnungen um die unausgesprochene Realität der Klassenunterschiede in Amerika« (hooks [2000] 2021:41) ging.
Der Kunstunterricht, »Das Zwischendeck« und Ich
Ich kehre zu der eingangs geschilderten und autoethnografierten Unterrichtssituation zurück, die aus einer klassismusikritischen Perspektive einen interessanten Moment in einem Bildungsprozess darstellt, den es lohnt zu untersuchen. Von diesem ausgehend, so meine These, eröffnen sich Möglichkeitsräume, Klassenfragen im Kunstunterricht besprechbar zu machen.
Der zentrale Unterrichtsmoment, der zugleich ein Irritationsmoment war, ist der, dass die informierte Lehrperson und der Schüler* (der die Hausaufgaben nicht gemacht hat), abweichende Deutungen der Heliogravüre »Das Zwischendeck« vornehmen. Während die Lehrperson die formalen Qualitäten des Bildes und die vermeintliche Gestaltungsabsicht des Fotografen hervorhebt, steigt das »erinnerte Ich« mit einer eher an den abgebildeten Menschen, also einer am Figürlichen orientierten Interpretation ein. Das »erinnerte Ich« betont die soziale Stellung der Menschen, thematisiert die Armut, die es glaubte im Bild erkennen zu können. Diese Interpretation wird durch die Lehrperson im Unterrichtgeschehen im Sinne einer Lesart korrigiert, die formalästhetische Aspekte in den Fokus rückt und als hegemonial bezeichnet werden kann. Sicher spielen formalästhetische Aspekte eine wichtige Rolle, allerdings greift eine solche Fokussierung auch kurz und wird der Mehrdeutigkeit des Bildes nicht gerecht. Denn Bilder zeichnen sich durch »eine hohe semantische Dichte und Fülle« aus, »wodurch jedes Detail […] potenziell Bedeutungszuschreibung erfahren kann. Dies führt zu einer mehrdeutigen Referenzialität, die situations- und kontextbestimmt sowie in Abhängigkeit des kulturellen Weltwissens hergestellt wird.« (vgl. Wrana et al. 2014:53/54).
Wendet man sich dem Lehrwerk, in dem die fotografische Arbeit abgedruckt ist, zu, und schlägt die Doppelseite 94/95 auf, so sieht man rechts die Heliogravüre »Das Zwischendeck« von Alfred Stieglitz und links den Informationstext im schulischen Lehrwerk »Praxis Kunst. Fotografie« (Klandt 1999:94/95). Es fällt auf, dass beides – Text und Bild – auf einer Doppelseite dargeboten werden. Bei einer Leserichtung von links nach rechts bekommen Leser*innen damit zuerst den Text und dann das Bild dargeboten. Eine genauere klassismuskritische Lektüre dieses Informationstextes lohnt, wird doch deutlich, dass im Text um verschiedene Lesarten des Bildes gerungen und am Ende die Ambiguität der Fotografie – wie ich zeigen werde – zugunsten einer eindeutigen Interpretation aufgelöst wird.
Michael Klandt, der Autor des Textes und Mitherausgeber des Werks, betont, das Stieglitz selbst über das Bild »Das Zwischendeck« im Nachgang viel geschrieben hat, so dass ein guter Einblick in dessen fotografisches Begehren und seine Arbeitsweise vorläge. Gleich zu Beginn rahmt dieser die von Stieglitz angefertigte Fotografie von1907 als eine der berühmtesten Aufnahmen der Fotogeschichte« und Alfred Stieglitz selbst als einen der zentralen Köpfe »einer Gruppe von avantgardistischen Fotografen« (vgl. Klandt 1999:94). Die Bedeutung des Fotografen und seiner Fotografie wird damit schon zu Beginn unterstrichen. Im Laufe der Ausführungen folgen einige Zitate Stieglitz', (entlang derer Klandt am Ende die hier zentral gesetzte Lesart der Fotografie herausstellt).
Im Informationstext heißt es in Zeile 12 bis 19:
»›Wie war mir die Erster-Klasse-Atmosphäre auf diesem Schiff verhasst‹, sollte Stieglitz später notieren. Um dieser Umgebung zu entkommen, ging er zum Ende des Schiffes, wo er in das Zwischendeck hinabschaute, in dem sich ›einfache Menschen‹ zwischen Gängen und Schornsteinen drängten.« (Klandt 1999:94)
Bemerkenswert an dieser Textstelle ist, dass Stieglitz selbst Klassenverhältnisse – und zwar die auf dem Schiff, die sich in einem Reisen in der ersten oder eben einer anderen Klasse ausdrücken – zur Sprache bringt. Seine eigene privilegierte Situation – genauer gesagt die »Atmosphäre« in der ersten Klasse, in der er reist und die nicht genauer beschrieben wird, war ihm »verhasst«. Stieglitz spricht hier aus einer privilegierten Position. Er spricht aus der Position eines Reisenden, dem in der ersten Klasse gewisse Annehmlichkeiten zu Gute kommen, die wiederum den dort abgebildeten Menschen auf dem Zwischendeck verwehrt werden dürften. In dem Zitat werden diese Menschen als »einfach« beschrieben (vgl. ebd.). Ähnlich der Begriffe Unterschicht [sic!] oder auch bildungsfern [sic!], werden durch vermeintlich antizipierte Nähe und Ferne, Komplexität und Einfachheit oder über ein Oben und Unten Hierarchisierungen vorgenommen, die den Subjekten – wie hier im Beispiel – einen Platz in der Klassengesellschaft (konkreter Ausdruck davon ist die Existenz einer ersten Klasse und eines Zwischendecks auf dem Schiff) zuweisen. Pierre Bourdieu spricht im Kontext dieses »weitläufigen Netz der Gegensatzpaare« von einem »Netz als einer Art Matrix aller Gemeinplätze, die sich nicht zuletzt so leicht aufdrängen, weil die gesamte soziale Ordnung auf ihrer Seite steht, liegt der primäre Gegensatz zwischen der »Elite« der Herrschenden und der »Masse der Beherrschten« zugrunde, jener kontingenten, amorphen Vielheit einzelner, die austauschbar, schwach und wehrlos, von lediglich statistischem Interesse und Bestand sind.« (Bourdieu [1987] (2023):730/731). Eine klasseninformierte oder gar klassismuskritische Einordnung erfolgt durch den Autor des Informationstextes im Lehrwerk nicht.
Stattdessen wird gegen Ende des Sachtextes folgendes resümiert:
»Mit seiner Vorgehensweise hatte Stieglitz den ›fotografischen Blick‹ entwickelt, der die Welt als Zusammenhang von Zeichen mit abstrakten Formqualitäten sieht. Damit brach er einer neuen Richtung Bahn, der Straight Photography (engl. straight: geradlinig, ehrlich, rein), die das fotografische Ergebnis den Gesetzen der Kameratechnik überließ und den Piktorialismus der Jahrhundertwende mit seinen weich gezeichneten, unscharfen, in der Dunkelkammer manipulierten Stimmungsbildern bald ablöste.« (Klandt 1999:94).
Stieglitz wird hier durch den Autor zum Erfinder des »fotografischen Blicks« ernannt. Er kann die Welt als ein »Zusammenhang von Zeichen mit abstrakten Formqualitäten« sehen und verstehen und »brach damit einer neuen Richtung« in der Fotografie »Bahn«, die als »geradlinig, ehrlich, rein« gerahmt wird, (vgl. ebd).
Es ist unmissverständlich: Stieglitz hat großes Erschaffen – gängige Narrative über den genialischen Künstler (und nur diesen) als Erneuerer drängen sich auf. Dieser kann die Welt als »Zusammenhang von Zeichen mit abstrakten Formqualitäten« erkennen, wie Klandt formuliert, und eine Fähigkeit zur Abstraktion wird ihm zugesprochen. Eine Abkehr oder gar eine Überwindung piktorialistischer Tendenzen, die als »weich gezeichnet […] [und] unscharf […]« abgetan werden, erfolgt an dieser Stelle. Die Überlegenheit der Straight Photography – einer »reinen« Fotografie – wird hier auch durch die Negation des Piktorialismus (und die explizite Gegenüberstellung) erzeugt, der eher »manipulierte« Bilder hervorgebracht habe (vgl. ebd.). Stieglitz ging es also beim Erstellen des Bildes »Das Zwischendeck«, folgt man den Gedanken und Ausführungen des Autors, um nichts weniger als die Wahrheit (vgl. ebd.). Es ist hier aber wichtig zu betonen, dass sich diese Ausführungen nicht auf das gesamte Schaffen Stieglitz´ selbst beziehen können, denn insbesondere seine Arbeiten vor 1900 aber auch zum Teil nach 1900 sind – sofern man in einer starren Logik der Epochen und Strömungen verbleiben will – recht eindeutig gerade dem Piktorialismus zuzuordnen (siehe hierzu bspw. das Bild »The Bus« von 1904; möglicherweise früher) (vgl. Staatliche Museen zu Berlin o.J.). Mit dem »Zwischendeck« scheint dies nun überwunden.
Es sei hier darauf hingewiesen, dass sich ausgehend von dem Bild und der textlichen Rahmung viele interessante Forschungsfragen ergeben – nicht nur in Bezug auf die Differenzkategorie Klasse – die es aber sicher lohnt an anderer Stelle nachzugehen. So ist beispielsweise interessant, dass gerade auch im Piktorialismus einige weiblich gelesene Personen Fotografien er- und ausstellten – bspw. Gertrude Käsebier (vgl. Staatliche Museen zu Berlin/ Käsebier o.J.) – und dass diese Stilrichtung im vorliegenden Lehrbuch einerseits mit Begriffen wie »weich« oder emotionsorientierten Umschreibungen wie »Stimmungsbildern«, die eher mit Femininität in Verbindung zu stehen sein, beschrieben wird und gleichzeitig eine Abwertung über Begriffe wie »manipuliert« erfolgt (vgl. ebd). Eine diskursanalytische Untersuchung entlang der Differenzkategorie Geschlecht würde hierbei sicher zu einem tieferen Verständnis beitragen.
Folgt man hingegen der Rezeptionsgeschichte der Fotografie in Bezug auf Modernitätserzählungen unter einer kritisch weißen Perspektive, eröffnen sich weitere interessante Forschungsstränge, die für den US-amerikanischen Raum durch Jordan Reznick in seiner Dissertation »Settler Modernism: Alfred Stieglitz's The Steerage and the Vicissitudes of Whiteness, 1890-1930« bearbeitet wurden (Reznick 2020). In der Arbeit zeichnet er nach, wie das Bild als »›first‹ American modernist photograph« Eingang in den Kanon des Amerikas des globalen Nordens fand und »how modernist American photography continued the settler colonial visual cultural project in the twentieth century« (Reznick 2020:5).
Legt man nun die im autoethnografischen Erinnerungsprotokoll skizzierte Unterrichts-situation, die ganz zu Beginn dieses Textes dargelegt wurde wie eine Folie über das, was der Sachtext im Lehrwerk als entscheidende Informationen und letztlich dominante Lesart der Fotografie »Das Zwischendeck« herausstellt, so wird eine Deckungsgleichheit in Bezug auf die Deutung des Bildes deutlich: Der Text bestätigt das, was das »erinnerte Ich« in Bezug auf das Agieren der Lehrenden und Lernenden im explizierten Kunstunterricht erinnert. Die Lehrperson stützt hierbei durch ihr Agieren und die Reaktion auf die im Folgenden als nicht korrekt markierte Aussage des Schülers* die Aussagen des Autors Michael Klandt. Der klassismuskritischen und der Mehrdeutigkeit eröffnenden Perspektive durch den Lernenden wird kein Raum gegeben. Der Unterricht verbleibt in dieser Situation einer primär formal-ästhetischen Auseinandersetzung verbunden.
Aber: Was wäre ausgehend davon noch möglich? Inwiefern kann die Irritation – die abweichende Lesart des Bildes durch das erinnerte Ich – als Ausgangspunkt dienen, um über Alternativen im Sinne einer diskriminierungskritischen Fotografievermittlung im Kunstunterricht nachzudenken?
Ambiguität zulassen, Kanon erweitern – weiterführende Impulse für einen klassismuskritischen Kunstunterricht
Ich zoome an dieser Stelle nun etwas aus der autoethnografierten Unterrichtssituation heraus, weite den Blick und schlage vor, den fotografischen Kanon im Sinne einer diskriminierungskritischen Auseinandersetzung mit Klassenfragen im Kunstunterricht zu erweitern. Dazu schlage ich exemplarisch zwei Positionen bzw. Strömungen – zum einen eine historische Gruppierung (»German Worker Photographs«) und zum anderen eine zeitgenössische fotografische Position (Karin Powser) – für den Kunstunterricht vor. Diese müssen nicht zwingend miteinander behandelt werden – sie können auch isoliert betrachtet werden. Beiden gemeinsam ist aber m.E., dass sie sich besonders dafür eignen, um über soziale Klasse ins Gespräch zu kommen.
Bei den German Worker Photographs – den Deutschen Arbeiter-Fotograf*innen handelt es sich um sogenannte Amateurfotograf*innen, die in den späten 1920er und 1930er Jahren das Leben des Proletariats auf Film bannten. Politisch fanden diese ein Zuhause in der KPD, SPD und in den Massenprotesten der Arbeiter*innenklasse der Zeit. Diese Bilder finden bisher wenig Beachtung im Kontext des schulischen Kunstunterrichts. Aus klassismuskritischer Perspektive ist dabei nicht nur interessant, was alles als Motiv (Fabriken, Arbeiter*innen etc.) herhielt, sondern auch, dass die Bilder das Leben der Arbeiter*innen eben aus jener Perspektive zeigen (vgl. Stumberger 2011:80f.). Die Bilder können somit als eine Form der fotografischen Selbstartikulation beschrieben werden – sie stellen damit weit weniger Fremdwahrnehmungen (wie bei Siteglitz) und -zuschreibungen dar – und wurden später in der Zeitschrift AIZ (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung) publiziert, die sich explizit an Arbeiter*innen richtete und ihre Leser*innenschaft animierte, Fotografien einzureichen. (vgl. ebd:84).
In Bezug auf den Aspekt der Selbstartikulation verhält es sich mit den Bildern Karin Powsers ähnlich. Powser, geboren 1948, war selbst über zehn Jahre wohnungslos und hat auf der Straße gelebt. Sie ist Mitbegründerin des Asphalt-Magazins in Hannover und dokumentiert in ihrer Arbeit Wohnungslose. Sie fertigt damit Bilder einer Gruppe von Menschen an, der sie selbst angehört bzw. angehörte. Die Fotografien Powsers verzichten auf eine »voyeuristische oder romantisierende Bildsprache. […] Stattdessen hält sie das fotografierte Gegenüber auch aufgrund von geteilter Erfahrung auf Augenhöhe fest.« (vgl. Boggasch et al. 2022:11).
Gemeinsam ist diesen beiden Vorschlägen für eine Kanonerweiterung und Impulsen für einen diskriminierungskritischen Kunstunterricht, dass sie nicht in kunstnahen Institutionen oder Publikationen gezeigt, sondern eben in Zeitungen abgedruckt wurden: Einmal in der AIZ, die sich recht explizit an Arbeiter*innen als Leser*innenschaft richtete, und im Fall von Karin Powser im Magazin Asphalt, einer Zeitschrift die eine breite Öffentlichkeit in den Blick nimmt und von wohnungslosen Menschen vertrieben wird. (»Das Zwischendeck« wurde zwar auch in der von Alfred Stieglitz selbst herausgegebenen Zeitschrift »Camera Work« publiziert, diese ist aber eine den Künsten – speziell der Fotografie – verschriebene Zeitschrift. Zudem zeigte Stieglitz die Fotografien auch in seiner eigenen Galerie in New York. Beides eher an das Bildungsbürgertum gerichtete Unterfangen) (vgl. Philippi und Kieseyer 1997). In der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung wurden die Fotografie-Text Kombinationen explizit für politische Zwecke genutzt – Fotografieren wurde dabei zum Werkzeug, die Massen im Arbeiter*innenkampf zu bewegen (vgl. Stumberger 2011:85). Eine derart klar zu benennende Funktion der im Asphalt-Magazin publizierten Fotografien von Powser ist sicher nicht möglich, dennoch entfalten die Bilder neben ihrem dokumentarischen Charakter auch eine Wucht, die Missverhältnisse der Klassengesellschaft in Bezug auf Armut und Wohnungslosigkeit, die im Magazin stets thematisiert werden, abzubilden (vgl. Brodowy, Schmidt und Müller-Brandes o.J.).
Die von mir hier angeführten Positionen für eine Auseinandersetzung mit Fotografie im Kunstunterricht berichten jeweils etwas über die Lebensrealitäten der Menschen ihrer Zeit. Nöte werden dabei nicht ausgespart, sondern finden Eingang in die Bilder. Sie sind nicht nur aufgrund dieser Themen interessant für einen diskriminierungskritischen Kunstunterricht mit einer Schwerpunktsetzung auf die Differenzkategorie Klasse, sondern besonders auch, weil es sich um Formen der Selbstartikulation handelt. Ein- und Ausschlüsse in Gesellschaften werden hier aus Betroffenenperspektive über Fotografien erfahrbar – ein anderer Blick wird ermöglicht. Dabei sollten mögliche Funktionen und Verbreitungsformen der Fotografien stets transparent und kritisch reflektiert werden.
Den von mir hier gesetzten Impuls verstehe ich dabei als einen Versuch, den kanonisierten Bildern und Positionen (siehe Alfred Stieglitz), weitere und bisher mitunter eher marginalisierte Bilder hinzuzustellen, mit dem Ziel ein komplexeres Bild von Fotografie und Fotografiegeschichte zu erhalten. Damit geht eine stärkere Betonung der Fotografien als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse einher, was eine formal-ästhetische Betrachtung allerdings nicht ausschließt, sondern mitunter Teil einer umfänglicheren Betrachtung sein kann. Der Mehrdeutigkeit der Fotografien sollte dabei im Unterricht im Fach Kunst in jedem Fall Raum gegeben werden.
Klassenfragen wagen: Fazit und Ausblick
Wie ich am konkreten Beispiel versucht habe zu zeigen, bieten sich diverse Möglichkeiten, einen klassismuskritischen Kunstunterricht Gestalt zu verleihen. Die vermeintlich falsche Antwort des »erinnerten Ichs« aus dem Beispiel zu Beginn hätte hierfür ein Moment des Einhakens sein können – ein irritierender Moment, der Gewissheiten in Frage stellt und für ein gemeinsames Lernen abseits dominanter Lesarten getaugt hätte. Es wäre dann nicht um die mögliche Vereindeutigung der Bildaussage gegangen (die im System Schule im Sinne einer Überprüfbarkeit durchaus verlockend zu sein scheint), sondern im Spivak'schen Sinne um ein Verlernen (vgl. Castro Varela und Dhawan 2009:351) und darum, am konkreten Beispiel den Raum für Ambiguität und Klassenfragen zu öffnen. Sprungbrett für eine solche diskriminierungskritische Perspektive stellt eben genau die vom »erinnerten Ich« vorgetragene, aber auch die von Alfred Stieglitz selbst benannte (und verhasste) Atmosphäre in der ersten Klasse dar (die durch den Text im Lehrwerk benannt wird).
Gemeinsam mit den Schüler*innen ließe sich dabei entlang der Heliogravüre »Das Zwischendeck« sowie über die beiden eingebrachten Impulse (»German Worker Photography«/ AIZ und Karin Powser) aber nicht nur etwas über die abgebildeten Klassenverhältnisse der jeweiligen Zeit, sondern auch etwas über die Macht der fotografischen Bilder, das Verhältnis von Fotografierten und Fotograf*innen, über die Frage nach der Repräsentation, über die politisch-gesellschaftliche Verortung und Funktion visueller Erzeugnisse und letztlich auch über die mitunter selbstermächtigende Kraft der Fotografie im Sinne einer Selbstartikulation, lernen. Insbesondere letztgenannter Punkt kommt durch eine Erweiterung um die »German Worker Photography« und Karins Powser Bilder von wohnungslosen Menschen zum Tragen. Fotografie kommt hier ohne paternalistisches Pathos aus – stattdessen bieten die Bilder und Geschichten den Lernenden wie Lehrenden aus klassismuskritischer Perspektive einen Anlass, um im Kunstunterricht entlang von Fotografien über Gerechtigkeit und Solidarität nachzudenken und zu diskutieren.
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