Birte Trabert
Kluften (k)einer Lehrerin* ist eine subjektive biografische Erzählung, die Machtmechanismen und Machtmissbrauch im Kontext Schule beschreibt. Dabei unternimmt die Autorin* den Versuch, diese Strukturen im Spektrum der eigenen Biografie auszuleuchten, um ihren* inneren Ambivalenzen auf die Spur zu kommen. Das Ziel der Autorin* ist es, den eigenen Machtmissbrauch aktiv zu verlernen & kein Arschloch zu sein. #keinMachtmissbrauch
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Dieser Text ist fünf Jahre nach meiner Teilnahme an der Kontextschule für diese Publikation entstanden.
Von wo spreche ich: Ich bin die* Erzählerin*, ich bin weiß, bezeichne mich als Frau*, meine Perspektive ist rein subjektiv, ich bin 1983 im Berliner Umland geboren, mein Abitur ist das erste und bisher einzige in unserer Familie, ich erzähle mich als Arbeiter*innenkind.
Fangen wir in der Mitte an, eine kleine, sehr wache Kunstvermittlerin* führt mich durch ein großes Berliner Museum. Wir kommen ins Gespräch, die Geschichten fließen. Wir entdecken irgendetwas aneinander und sie lädt mich in die KontextSchule ein. Ich bin sehr aufgeregt.
UdK – die Universität der Künste, YES, ich bin drin. Den Begriff der Fortbildung dehne ich mir, für meine eigene Erzählung, ein wenig aus: Ich studiere jetzt an der Universität der Künste. Love it!
Diese kleine Ermächtigungsstrategie zugunsten einer erfolgreichen biografischen Erzählung markiert meine Scham. Eine Klassenscham, in der die Institution, Universität der Künste, mich wie ein Katapult auf eine höhere Statusebene schießt. Zuvor hatte ich in Weißensee, der kleinen Ostberliner Kunsthochschule, Bildhauerei studiert. In Weißensee habe ich zwar eine nachhaltige Abneigung gegen den Kunstmarkt und seine Erfolgsperformances entwickelt. Meine soziale Identität bleibt dennoch starken Schwankungen unterworfen, denn von dort aus betrachtet, war die KontextSchule an der UdK oben und ich unten.
Reality check: Natürlich kenne ich die UdK, fette Säulenhalle, Steinfußboden (in meiner Vorstellung Marmor), Schuhe mit Absatz, klack, klack, klack. Geil irgendwie – der Rausch meines Aufstiegs pulsiert in meinen Ohren.
Naja – und dann doch nicht.
Die KontextSchule beginnt für mich 2014, damals arbeitete ich seit knapp zwei Jahren als Künstlerin* an Berliner Schulen. Erster Tag, ich steige an der falschen Haltestelle aus – TU Architektur. Westberlin. Laufen, eine halbe Ewigkeit, dann halbhohes, hässliches Hochhausgebilde. Die Fußmatten verbreiten die Ästhetik einer vorstädtischen Sparkassenfiliale. Die Fahrstühle sind total klein – immerhin zwei. Ich nehme Fahrt auf – irgendwas oben – vielleicht vierter Stock. Linoleum, PVC-Fußbodenleisten, graue Büromöbel, drei Räume und ein altes Sofa.
Hm... meinen Aufstieg hatte ich mir geiler vorgestellt. »Fette Säulenhalle, Marmorfußboden, Schuhe mit Absatz, klack, klack, klack.« So irgendwie. In dieser totalen Banalität werde ich nun also mit echten Lehrer*innen, Kunstprojekte entwickeln – good luck with that.
Eine Gruppe junger Frauen leitet die Kontextschule – sie sind mega nice & ultra bemüht sowas wie Gleichwürdigkeit in diesen Räumen herzustellen.
Eine Frau kenne ich bereits – sie gehört zu den Ultras unter den gradlinigen Frauen – sie scheint furchtlos und schön und manchmal macht sie mir Angst – die Dinge & die Art, wie sie Dinge anspricht, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich schwanke immer zwischen Neugier und Deckung. Sie ist hart, ebenmäßig und wenn es sein muss legt sie ihre schönen Finger in jede soziale Wunde, die zwischen uns aufbricht. Ich freue mich, dass sie hier ist. Eine Art Eiskönigin.
Eine andere Frau spricht manchmal mit Akzent, sie ist extrem zugewandt und warm. In sozial ausweglosen Situationen, verfügt sie über die Fähigkeit sich zu sammeln und das Gespräch zu suchen, immer wieder. Das bewundere ich. Sie bleibt. Sie beruhigt. Sie vermittelt. Neutralität.
Diese Führungsfrauen sind ausgesprochen gebildet und klug und schön und und und …
Das schüchtert mich ein. Diese soziale Verunsicherung führt mich zielsicher in eine Offensive. Als Coping-Strategie trage ich meine prekäre Herkunft als Schutzschild vor mir her. Von hier aus kann ich vorgeben alles Bürgerliche zu hassen, mich extra daneben benehmen und dabei manchmal, ganz kurz ein gutes Gefühl haben.
Ich bin lauter und wütender, weil ich ahne, dass diese Frauen einen Vorsprung haben – jedenfalls in diesem Bezugssystem. Ich bin neidisch. Auf ihre Bildung. Kratze mir ein bisschen Selbstwert zusammen und halte mich aufrecht. Sie berühren mit ihrer Herkunft meine Würde. Noch heute.
Uns verbindet ein gemeinsames Ziel: wir heben den alten, muffigen Teppich, der im Kontext Schule über all den schadhaften Stellen im Fundament liegt, Stück für Stück ein bisschen an.
Im Laufe der Zeit werden dadurch, auch zwischen den Teilnehmer*innen der KontextSchule, vielfältige Gegensätze sichtbar. Unbehagen. Fragilität. weiß sein. Wir erleben Dissens.
Dissens wird mein neues Lieblingswort.
Unter dem Teppich die Kluften.
Vergangenheit: in meiner Genese hinsichtlich diskriminierungskritischer Arbeit spiele ich mich gerade durch Level zwei. Von hier aus flüstere ich heimlich, hinter meiner Stirn: »Wie sie manchmal übertreiben, diese klugen Frauen«. Heute, auf Level vier, in dieser, meiner Gegenwart sage ich: »Sie haben kein bisschen übertrieben, diese Frauen.« Diese Kluften markieren das Unbehagen. In der Zukunft gelingt es nur einigen von uns beieinander zu bleiben. Nähe. Die Gegensätze ohne Teppich auszuhalten, ist schmerzhaft. Realer Dissens.
Vergangenheit: Bevor wir, die Teilnehmer*innen, einander fremd werden, kommen wir erstmal an. In den banalen Räumen sitzen sehr unterschiedliche weiße Menschen, alle haben ein Studium absolviert, viele Frauen – die Stimmung ist nett, sozial erwünschtes Verhalten. Wir – das Bürgertum.
Reality check – zweiter Blick: In den banalen Räumen sitzen sehr unterschiedliche weiße Menschen – manche sind wach, andere müde. Manche offen und lustig. Andere bitter und voller Zweifel. Manche wollen hier sein, andere müssen teilnehmen. Manche haben ein festes Gehalt mit Sozialversicherungen, andere leben von Projekt zu Projekt. Manche werden für die Teilnahme bezahlt, andere kommen freiwillig ohne Geld. Die Teilnahme ein Investment, sie hoffen auf Kontakte und Arbeit und Geld. Kluften. Geld haben eher die Lehrer*innen – kein Geld haben eher die Künstler*innen. Ob und wer irgendwann etwas erbt, bleibt unterm Teppich, bis heute.
Reality check – Finanzen: Künstler*innen die als Honorarkräfte an Berliner Schulen arbeiten, verdienen um ein Vielfaches weniger als Lehrer*innen, sie erhalten keine Entlohnung in den Ferien und keine Zulagen, kein Weihnachtsgeld, keinen bezahlten Urlaub, sie sind nicht automatisch sozial- und kranken-versichert, sie haben keine Gewerkschaft, keine Personalberatung, keine Frauen*beauftragte. Wenn Künstler*innen im Schuldienst krank werden, haben sie kein Recht auf Bezahlung.
45 Minuten einer Berliner Lehrer*in – brutto – 170 €.
45 Minuten einer Berliner Künstler*in als Honorarkraft in der Schule – brutto – zwischen 25 € und 42 €.
Hm... ja genau... das ist krass. Finde ich auch.
Vergangenheit: Meine Vorurteile Lehrer*innen gegenüber sind enorm. Vor allem enorm negativ.
Gegenwart, 2022: Ich bin Lehrerin*. Unbehagen.
Wenn Menschen mich nach meinem Beruf fragen, wähle ich zwischen Lüge und Scham.
Die Lüge – ich bin Künstlerin*, das bedeutet: ich töpfere hobbymäßig auf meinem Balkon, hege krasse Gedanken und pflege meine blassbunten Erinnerungen an die Kunsthochschule. Die Scham – ich bin Lehrerin*, das bedeutet: ich habe ein Staats-examen & unterrichte Kunst an einer Neuköllner Sekundarschule ohne Oberstufe. Konflikt: Ich unterrichte gern & ich möchte auf KEINEN FALL eine Lehrerin* sein.
Vergangenheit: Einige Lehrer*innen die mit mir die KontextSchule besuchen, dienen mir als gute Vorbilder für die Lehrperson, die ich niemals sein möchte. Ein weißer, blonder, großer Mann, mit schwarzer Lederhose fällt mit sexistischen & rassistischen Kommentaren unangenehm auf. Trotz wiederholter liebevoller, später drängender Hinweise scheint er immun gegen Kritik. Dass er sich, aus seiner Perspektive, ganz sicher nicht rassistisch äußert, begründet er damit, dass er in einer Beziehung mit einer Brasilianerin lebt. Ich halte Abstand, zur Person & dieser Art von ›Argumenten‹. Zwei andere Lehrerinnen sprechen wiederholt davon, dass alles sehr aufwendig ist, mit dieser kulturellen Bildung, sie sind sich un--sicher, was das bringen soll. Weil aus ihrer Perspektive ist es das Wichtigste, dass »die Schüler*innen bis zum Abitur prüfungsreif geschliffen werden.« Diese Art der sozialen Gestaltung widerstrebt mir. Deformation durch Machtverhältnisse.
Eine Lehrerin lädt mich als Künstlerin* an ihre Schule ein & macht fast alles möglich. Sie nutzt die bestehenden Machtverhältnisse, um mitzugestalten. Eine Kooperation bis in die Gegenwart. Danke Regina!
Eine andere Lehrerin berichtet darüber, dass sie in ihrem Kunstunterricht am Gymnasium nur Künstlerinnen* bespricht. Ich feiere ihre Arbeit hart – sie ist mutig – ein Licht. Ihre Arbeit lässt die Geschlechter*Kluft der Kunstvermittlung an Berliner Schulen erstrahlen. Wir brauchen mehr von diesem Licht, um in den staubigen Hinter-zimmern unserer Schulen alle Machtverhältnisse auszuleuchten.
Zeitsprung: 2022, eine Doppelstunde Vertretungsunterricht, 21 Schüler*innen, neunte Klasse, der Klassenlehrer betritt unangekündigt den Raum, kein »Guten Morgen«, stattdessen: ruft er laut »Hinsetzen, Klappe halten!« Alle setzen sich hin, alle sind still. Es folgt ein Monolog, irgendwas mit Praktikum, MSA, meine Fassungslosigkeit verzerrt meine Erinnerung. Ich möchte mich auflösen, beobachte mich dabei, wie ich nichts tue, es geschehen, ihn gewähren lasse. Eine weiße, mittelalte Frau* steht am Lehrer*innenpult und schweigt. ICH.
Dabei bin ich mir ganz sicher, dass ich das nicht zulassen will, diese Lehrerin* will ich nicht sein. Dennoch stehe ich nur da und schaue zu Boden und warte bis es vorbei ist.
»Hinsetzen, Klappe halten!« Das ist patriarchale Gewalt. Ein Mann, der seine entwürdigende Ansprache sowie seinen Machtmissbrauch, für angemessen hält. Weil er glaubt, ihm gebühre Gehorsam, weil er der Lehrer ist. Mit dieser patriarchalen Gewalt leben die Jugendlichen aus Mangel an Alternativen jeden Tag. Dieser Machtmissbrauch durch eine Lehrperson ist kein Einzelfall. Diese und andere, zum Teil weitaus gravierendere Situationen finden statt, weil das Schulsystem Lehrpersonen zwar mit dieser Macht ausstattet. Uns aber nicht beibringt, die Macht nicht zu missbrauchen. Schweigen. Eine Gefährdung. Mein Schweigen markiert die Ohnmachtsverhältnisse durch Machtmissbrauch. Ich bin Teil dieses Schulsystems – ich bin die Lehrerin* und genau deshalb will ich keine Lehrerin* sein.
»Hinsetzen, Klappe halten!« macht einsam. Ihn und mich. Hoffentlich können die Jugendlichen ihn/uns wenigstens im Kollektiv hassen oder bemitleiden, oder beides, OPFER. Alter weißer Mann. Mittelalte weiße Frau*. Ich schaffe keine Brücke über die Kluft zwischen dort und hier. Ihm und mir. Schweigende, stumme Flammen brennen auf meinem persönlichen Scheiterhaufen. Asche zu Asche ohne Dialog. Vielleicht würde eine der klugen Frauen es schaffen – die Neutrale oder die Eiskönigin. Vielleicht.
Zukunft: ich wünsche mir, zu lernen, meine Macht nicht zu missbrauchen.
Zeitsprung
Kontextschule 2015 – wir analysieren Machtverhältnisse in Schulen. Auf vielen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven. Unsere Geschichten, der Schmerz, die Scham, Verletzlichkeiten. Es ist schwer sich selbst innerhalb der eigenen Verhältnisse zu betrachten, insbesondere dann, wenn Unterdrückung ein Teil dieser Anordnung ist, und ich nicht immer das Opfer bin. Wir alle sind verstrickt in Machtverhältnisse und Hinsehen schmerzt, brennt und beschämt mich. Die klugen Frauen versorgen uns mit Kontext, in Form von Büchern und Texten. Autor*innen haben mein Unbehagen zur Sprache gebracht. Überall Sprache. Viel Sprache. Manchmal zu viel bürgerliche Sprache.
Schönes Sprechen. Heimlich hege ich das dringende Bedürfnis jemandem auf die Fresse zu hauen und tue es nicht.
Gegenwart: ich bin Lehrerin* an einer integrierten Sekundarschule, ohne Oberstufe, in Berlin Neukölln – die Hauptschule. Ich bekomme eine finanzielle Zulage, weil mehr als 80% der Schüler*innen im Leistungsbezug des Jobcenters leben. Bei einer Vollzeitbeschäftigung 300€ im Monat.
Triggerwarnung Nummer eins: Snobismus – Überlegenheitsgefühle einer Aufsteiger(-schneider)in*.
UUUUUuhhhhhhh hmmmmm … hmmmmm … mir selbst in diesem Spiegel entgegenzublicken, tut unfassbar weh. So wie ein Heftpflaster, schnell, von einer faustgroßen Schürfwunde abreißen. Der zarte Schorf hängt am Pflaster. Wundwasser glänzt auf der rosigen, sehr dünnen Haut. Es suppt. Dieser Schmerz – ihr wisst schon.
Wenn ich meinen Freund*innen von diesem Teil meines Spiegelbildes berichte, passiert immer das Gleiche, sie versuchen mich, wie folgt, zu retten: »Ach quatsch, du bist eine tolle Lehrerin*, die Kids können froh sein, dass sie dich haben. Du bist doch nett zu ihnen & ihr macht coole Projekte.«
Das stimmt, aber es stimmt auch, dass ich es hasse, mit reichen, überprivilegierten Personen zu arbeiten.
Vergangenheit: ich leite einen Ferienworkshop im Pergamonmuseum. Das gut sortierte Bürgertum bringt seinen wohlerzogenen, gut gekleideten Nachwuchs, inklusive kleiner ökologischer Snackboxen, die liebevoll und ausgewogen befüllt sind. Sie überlassen uns unserem Schicksal. Alle haben überlebt, ich habe jede Minute in der Aura ihrer Überlegenheit verflucht.
Ende Triggerwarnung Nummer eins.
Während des Referendariats muss ich am Gymnasium unterrichten. Mein Habitus markiert die Angst vor der Entwürdigung, ein unbehagliches Ausweichen, um dem zivilisierten Bürgertum zu entkommen. Leider finde ich kaum Nischen in dieser lebendig gewordenen Fehlerkultur, deren soziale Grammatik alles in Leistungen misst. Ich bin eine Dienstleisterin*. Zum Überleben kaufe ich eine Bluse und ein Jackett. Trotzdem begleitet mich immer das Gefühl, auf der falschen Seite des Pultes zu sitzen. Wenn ich hier jemanden als Mensch adressiere, stifte ich Verwirrung. Wenn ich Leistungsverweigerung als logische und angemessene Konsequenz anerkenne – totales Unverständnis. Alles und alle sind zivilisiert, subtil, gehorchen. Die Verlängerung des Gymnasiums heißt Referendariat. Meine innere Hofnarrin* ist kaum eine Hilfe – keine*r lacht.
Dann lieber Dauerschleife »ich fick deine Mutter, Frau Trabert«, kein Gehorsam.
Triggerwarnung Nummer zwei: Vermeidungsstrategien einer weißen, rassistischen, klassistischen Lehrerin* in Neukölln, ich spiele mich als kluge Frau* durch Level vier.
Kunstunterricht: Einer meiner Schüler (15 Jahre alt, arabisch sprechende Familie, BOSS Pullover) ruft »HITLER, HITLER, HITLER«. Er kennt mich gut. Antisemitismus, Rassismus und Sexismus sind meine Schmerzpunkte im Klassenraum. Wer möchte, dass ich wütend werde – einfach hier fest drücken. »HITLER, HITLER, HITLER«, guckt, »HITLER, HITLER, HITLER«, guckt und grinst. »HITLER, HITLER, HITLER«.
Ich: »Noch einmal Hitler & Du kannst wählen, 20 Liegestütze oder eine Umarmung von der Lehrerin*, hier, jetzt.«
»HITLER«.
Ich: »OK, Schluss, Liegestütze oder Umarmung?«
»Umarmung«.
Der Raum hält den Atem an.
Unsere Würden sind intakt.
Spoiler: Mein Kind wird nächstes Jahr eingeschult – das Private ist politisch & mein Puls erhöht. Soll ich meinen weißen Sohn* mithilfe des sozialen und finanziellen Kapitals, das mir zur Verfügung steht, aus der Staatsschule freikaufen, ihn jeden Tag kilometerweit durch die Stadt karren, damit er es mal besser hat, weil ich kann?
Neben den guten Tagen möchte ich auch jene nicht geheim halten, an denen Antriebslosigkeit & Erschöpfung meinen sonst eher forschen Gang umspielen. Anflüge von Mutlosigkeit werfen wiederkehrend dunkle Schatten auf meine kleine regen-bogenfarbene Rebellion. Auch diese dunklen Tage sind real. Zunehmend begegnen mir Lehrer*innen, die vieles in der Schule als nicht angemessen und nicht sinnvoll erleben.
An grauen Tagen erlebe ich die öffentliche Schule, ganz subjektiv, so: Schule verwaltet und verwahrt, von 8:00 bis 15:15 Uhr, damit die Lohnarbeitskräfte dem Arbeitsmarkt dieses Landes zur Ver-fügung stehen können, im Prinzip. Zwischen der Verwaltung und der Verwahrung ziehen Menschen sich zurück, Potentiale und Fähigkeiten liegen brach. Hinter vorgefertigten Zeitfenstern führen wir, die Lehrer*innen die Aufsicht. Hinter den ohnehin kleinen Fenstern erheben sich unfassbar viele strukturelle Hindernisse. Die Erde bebt, während sich die gewaltigen Kontinentalplatten einer Bildungsgesellschaft in zu kleinen maroden Räumen zusammenschieben. Ein Felsvorsprung wird zum Pult, meine Knie zittern. Schweigen.
Ich widerstehe dem Drang, während dieser permanenten Erschütterung ein lauwarmes »alles wird gut« in den vorwiegend nicht weißen, nicht wohlhabenden Raum zu sprechen. Schweigen. Es wird nicht gut. Es bleibt anstrengend. Aber vielleicht gibt es eine Chance, dass es besser wird. Vielleicht.
Wir nähern uns Level fünf.
Einige Schüler*innen berichten, entgegen meiner Annahme, dass sie eigentlich gern in die Schule kommen. Ich bin überrascht. Nur das mit dem Unterricht sei irgendwie »blöd«, sagen sie. Aha – Schule ohne Unterricht. Ein Hoffnungsschimmer reflektiert im Fenster: Wenn ich will, dass es besser wird, muss ich lernen, meine Macht nicht zu missbrauchen. Wenn ich will, dass es besser wird, muss ich Platz machen. Wenn ich will, dass es besser wird, muss ich meinen Felsvorsprung auf- und das Pult abgeben. Hier in diesem Gedankenpalast begegne ich sofort meiner Urangst: Wenn ich Platz mache, verliere ich meinen Platz? FUCK! Und dann?
Eine Utopie: Wenn ich selbstbestimmt entscheide, meinen Felsvorsprung auf- & das Pult abzugeben, haben alle im Raum mehr Platz & teilen sich ein Pult. In einer Schule ohne Unterricht könnten wir zunächst herausfinden, was unser gemeinsames Ziel ist. Meine Lust wäre, Methoden für das aktive Verlernen zu entwickeln. In der Abwesenheit von Unterricht, schaffen wir Verbindungen, werden Verbündete & verlernen gemeinsam unsere Macht zu missbrauchen, in Anerkennung aller Kluften, für eine Schule ohne Opfer.
BAM.
In Berlin sind derzeit 9 Stellen für Rektor*innen ausgeschrieben, Tendenz steigend. Vielleicht könnten wir von dort aus Platz machen und keine Macht missbrauchen. In einem Anflug von Mut, zähle ich manchmal meine diversen* Verbündeten durch & denke hinter meiner Stirn: »Vielleicht sollten wir uns trauen«.
Es ist 16:00 Uhr, ich muss das Kind aus der Kita holen. Mit milchigem Blick trete ich auf die Straße und versuche die letzten Strahlen meines Mutes zu tanken, bevor die Wirklichkeit wieder kickt. Vielleicht.
(K)eine Lehrer*in.
Kluften (Deutsch), Kluf|ten, [ˈklʊftn̩], starker Gegensatz, der unüberwindbar scheint, oder
uniformartige Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe kennzeichnet.
Frau und Mann sind in dieser Erzählung keine biologischen, objektiven Kategorien, sondern stehen für politische, historische und soziale Konstruktionen. Sie markieren darüber hinaus eine binäre Geschlechtsordnung, die ich ablehne.
KontextSchule 2014 – 2016, eine Fortbildung für Lehrer*innen & Künstler*innen zur Sensibilisierung für eine diskriminierungskritische Zusammenarbeit an und mit Schulen.
Die Zuschreibung der Geschlechtsidentitäten, hier, sowie an anderen Stellen, habe ich ohne Rücksprache mit den betreffenden Personen vorgenommen. Um diese subjektiven Zuschreibungen, durch die Erzählerin* zu kennzeichnen, stehen sie kursiv.
Mit einem BIP von 93.720$ pro Kopf, gilt das Herkunftsland des Akzents als das drittreichste Land der Welt. Handelsblatt, 24.08.2022.
Diese Summe ist eine Annäherung, der meine Besoldung zugrunde liegt, sie variiert, je nach Besoldungsstufe und geleisteten Dienstjahren, rechnet gern euren Stundenlohn anhand eurer
Bruttogehälter inklusive Weihnachtsgeld, bezahlten Urlaubstagen, Krankentagen und Sonder-zulagen nach.
AT EntgO-L §78aBBesGÜfBE, Außertarifliche Zulage für Lehrkräfte an Schulen in schwieriger Lage.
Meine folgenden Gedanken sind sozial unerwünscht und unangemessen, hoffentlich nur
ein Einzelfall.
Hier stellt sich die Frage nach dem Bezugsystem, auf das sich dieses »besser« bezieht – und bleibt offen.
An hellen Tagen erlebe ich auch motivierte, achtsame & wache Lehrer*innen die sich, wie ich, eine gute Schule wünschen.
Anwesenheitspflicht, Schulpflicht, Rahmenlehrplan, Prüfungen, Noten, äußere Differenzierung, Statusabstände aller Art.
Die regelmäßige und systematische Vermittlung von Wissen durch eine*n Lehrer *in
an Schüler*innen.
In Form von sozialem und finanziellem Kapital.
Stand 12.09.2022.