Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden weiße, bürgerliche Künstler*innen in den industriellen Metropolen als Bildungsarbeiter*innen tätig[1]. Sie engagierten sich für die Verlierer*innen von Kapital-ismus und Kolonialismus. Doch gleichzeitig arbeiteten sie an der Zivilisierung und Disziplinierung der als defizitiär markierten, ge-anderten Bewohner*innen. Der Beitrag beschäftigt sich mit den historischen Kontinuitäten dieser Konstellation und mit den Möglichkeiten, diese zu unterbrechen.
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An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden weiße, bürgerliche Künstler*innen in England und USA in den Stadtvierteln der industriellen Metropolen, die von ökonomischer Armut und von Arbeitsmigration geprägt sind, als Bildungsarbeiter*innen tätig. Sie setzten sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen in diesen Vierteln ein. Ihr Einsatz ging mitunter so weit, dass sie dafür im Gefängnis landeten. Doch ihre Wirkungsbestrebungen zentrierten die eigene Subjektposition: sie arbeiteten mehrheitlich nicht auf die Umverteilung von Kapital hin, sondern an der Zivilisierung, Disziplinierung und Nationalisierung der als defizitär markierten, ge-anderten Bewohner*innen. Sie nahmen deren eigene Selbstorganisationen kaum zur Kenntnis, sie gingen fast niemals Bündnisse mit diesen ein. Es ging ihnen vornehmlich darum, dass die Verlierer*innen von Kapitalismus und Kolonialismus durch die Beschäftigung mit Kunst ›sehen lernen‹. Damit war gemeint, ästhetische Sensibilität im Sinne einer bürgerlichen moralischen Verfasstheit zu entwickeln, die ihnen das Leben weniger grausam und ungerecht erscheinen ließe und sie zur ›Selbsthilfe‹ motivieren würde. Sie sollten ihre knapp bemessene Freizeit nicht in Kneipen und mit vermeintlich sündhaften Vergnügungen, sondern mit Kunst verbringen. Es ging des Weiteren um eine bessere Verwertbarkeit von Arbeitskraft im kolonialen Wettbewerb, bei dem die Kenntnis künstlerischer Gestaltungsprinzipien als ein entscheidender Faktor angesehen wurde, um qualitätsvolle Produkte, die denen der Kokurrent*innen überlegen waren, auf den Markt zu bringen. Und schließlich ging es darum, durch künstlerische Bildungsarbeit im Angesicht kolonialen Widerstands und gewerkschaftlicher Organisierung sowie im Zuge der sukzessiven Ausdehnung des Wahlrechts zur Entwicklung einer Kritikfähigkeit und einem Gefühl von Teilhabe beizutragen. Die durch Kunst gebildeten Subjekte sollten einerseits zivilgesellschaftlichen Erfordernissen an Mitbestimmung gerecht werden und andererseits für die bürgerliche Hegemonie keine Bedrohung darstellen.
Künstlerinnen schufen für sich selbst durch ihr soziales, kunstpädagogisches Engagement zudem gesellschaftlich akzeptierte Handlungsspielräume in der öffentlichen Sphäre: als Frauen war ihnen der Karriereweg als Künstlerinnen versperrt, als künstlerische Bildungsarbeiterinnen stand er ihnen offen. Die Unternehmungen von Künstlerinnen in der Bildungsarbeit zeigten damit Parallelen zu Siedlungen in den Kolonien, welche ebenfalls Spielräume für die Emanzipierung von weißen bürgerlichen Frauen boten – in beiden Fällen wurden sie als gesellschaftlich relevante Gestalterinnen in der öffentlichen Sphäre sichtbar und schufen Handlungsräume, die dezidiert auf weiblich zugeschriebenen Eigenschaften wie Fürsorge, Bildung und sozialer Disziplinierung fußten (Mörsch 2016). Auch Künstler*innen in Schulen tauchten in dieser Zeit und in diesem Kontext zum ersten Mal auf – unter anderem, weil die Organisationen an der Schnittstelle von Bildung und Kunst, welche von den Künstler*innen gegründet werden, mit Schulen zusammenarbeiteten (Mörsch 2019: 448f.).
In den 1930er und 1940er Jahren, in der Zeit der Wirtschaftsdepression, etablierte sich die Figur des artist-educator im anglophonen Raum schließlich als feste Größe, denn Künstler*innen wurden über eigens für sie aufgelegte Beschäftigungsprogramme im Bildungswesen eingesetzt. Wiederum wirkten sie daran mit, Menschen zu ›kreativen Staatsbürger*innen‹ zu erziehen, ihnen kulturelle Teilhabe im Kleinen anzubieten und Aufstände vermeiden zu helfen. In diesem Kontext entstehen die ersten Community Art Center als Orte, in denen die Bevölkerung eingeladen ist, sich – mitunter in Zusammenhang mit einem sie betreffenden politischen Thema – künstlerisch zu betätigen und die drei Jahrzehnte später eine Orientierung für die Stadtteilkulturarbeit in Deutschland bieten. In den 1940er Jahren bediente sich der britische Kunsthistoriker Herbert Read in seinem Buch »Education through Art einer primitivistischen Argumentation, um den Künstler [sic!] als den besseren Lehrer auszuweisen. Künstler hätten, ähnlich wie Kinder und (von Read als solche bezeichnete) ›primitive Völker‹ einen unverstellten Blick auf die Welt und seien in der Lage, eine höhere Wahrheit zu erkennen (Read 1943: 74f.). Wie schon Friedrich Schiller, der die Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen (Schiller 1795) im Angesicht der Gräueltaten der französischen Revolution, beschwor auch Read im Angesicht des Weltkriegs seinerseits die Utopie eines durch Kunst und Künstler [sic!] in der Bildung zu erreichenden Frieden, der offenbar ohne die Umverteilung von Kapital, ohne die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit zu gelingen vermag – ein selten explizit ausgesprochenes Versprechen, das Projekten der künstlerisch-edukativen Arbeit bis heute innewohnt. Direkt nach dem Krieg wirkte Herbert Read zentral an der Gründung der International Society for Education through Art (InSEA) mit, die in ihrer Programmatik die primitivistische Idealisierung der Künstler*innenfigur genauso übernahm wie ein bürgerlich-weiß perspektiviertes Erziehungsideal, das auf einen durch künstlerische Bildung zu erreichenden ›Weltfrieden‹, ohne Umverteilung von Ressourcen aus ist (vgl. Mörsch 2019: 283). Aus der UNSECO heraus entstanden, stellt diese Organisation bis heute das zentrale weltweite Vernetzungsorgan für Kunstlehrpersonen und Künstler*innen in der Bildungsarbeit dar.
1947 war Read auch Mitbegründer des Institute for Contemporary Art (ICA) in London, in dessen Umfeld sich 1964 die Artist Placement Group formierte – eine Gruppe, die bis in die 1980er Jahre hinein fast vierzig Projekte realisierte, in denen Künstler*innen, aufgrund der ihnen attestierten besonderen Art die Welt zu sehen, in unterschiedlichste gesellschaftliche Kontexte als bezahlte Expert*innen einbezogen wurden – von der Stadtplanung über das Bildungswesen und die freie Wirtschaft bis in den Gesundheitsbereich. Die Artist Placement Group stößt im Deutschland der 1970er Jahre auf Interesse, sowohl seitens der sozialdemokratischen Regierung als auch bei den sich gerade formierenden Interessenvertretungen von Künstler*innen – sie werden auf die documenta 6, zu einer Ausstellung in den Bonner Kunstverein und zu öffentlichen Diskussionsveranstaltungen über »den Einbezug künstlerischen Sachverstands bei der Erfüllung von Ressortaufgaben« ein-geladen (Pohlen 1978: o. S.). Im Nachkriegsdeutschland der 1950er und 1960er Jahre war zunächst eine vermeintlich unengagierte abstrakte Kunst als einzig akzeptable künstlerische Sprache des Westens propagiert worden, wie sich unter anderem an den ersten vier documenta-Ausstellungen in Kassel zeigt. Die Kunsterziehung in der Schule wiederum hatte sich zurück zu ihrem Wurzelstrang der bürgerlichen Reformpädagogik aus der Vorkriegszeit orientiert und fokussierte unter der Überschrift Musische Bildung ebenfalls stark auf die Formensprache des Expressionismus und der Abstraktion. Doch in der Folge der 1968er-Bewegung setzten eine Diskussion über klassistische Ausschlüsse des bürgerlichen Kunstbetriebs und eine Hinterfragung des Autonomieverständnisses der Kunst als politisch vermeintlich desinteressierte, vor allem mit formal-ästhetischen Fragen und dem Ausdruck von Innerlichkeit beschäftigte Praxis ein. Als Gegenbewegung zur Musischen Bildung entstand die Visuelle Kommunikation, welche die herrschaftskritische Analyse der alltäglichen visuellen Kultur in den Mittelpunkt des schulischen Kunstunterrichts stellte. 1970 forderte der Vertreter der Visuellen Kommunikation und Kulturhistoriker Diethart Kerbs,
»dass der Künstler [sic!] sich nicht vornehmlich als Produzent von meisterlich gemalten Bildern, die in die Museen gehängt würden, begreife, sondern vor allem als Spielverderber oder Spielerfinder, als Ideenproduzent und Regisseur sozialer Interaktionen, als Ästhetikingenieur und Zukunftsforscher und nicht zuletzt als politisches Individuum der Öffentlichkeit.« (Kerbs zit. in Baumann 2004:10)
1971 tagte in der Paulskirche in Frankfurt am Main der 1. Bundeskongress Bildender Künstler. In seiner Eröffnungs-rede postulierte der Künstler Gernot Bubenik:
»Die Berufsgruppe der Freien Künstler [sic!], ausgebildet an den freien Abteilungen der Kunsthochschulen, angeblich frei von Vorgesetzten, Markt und gesellschaftlicher Bindung, hat vor allem die Freiheit, ihre Freiheit zu verkaufen […]. Weil viele Künstler [sic!] mit dieser Freiheit nicht mehr leben und schaffen können, findet dieser Kongress statt.« (zit. n. Bast 1981:7)
Und:
»Der überwiegenden Mehrheit unseres Volkes werden durch das bürgerliche Bildungsprivileg Gebrauch und Genuss von Kunst weitgehend vorenthalten. In der Aufhebung dieses Privilegs liegt zugleich die große Zukunftsperspektive der künstlerischen Berufe« (ebd.).
Ein von einer Arbeitsgruppe zu »Kunst und Erwachsenenbildung« des BBK vorgelegtes Konzept Zur Integration der bildenden Kunst in den Bereich der allgemeinen Weiterbildung argumentiert, dass strukturelle Veränderungen in der Erwerbsarbeit erwarten ließen, dass der Bevölkerung in Zukunft mehr arbeitsfreie Zeit zur Verfügung stünde, die durch aktive Teilhabe an der kulturellen Produktion sinnvoll gefüllt werden könne. Zudem würden neue Produktionsformen zu neuen Anforderungsprofilen führen, weg von der mechanisch-physischen Leistung, hin zu der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erfassen und zur Bereitschaft zu größerer Mobilität. Und zum Dritten könne die Beschäftigung mit künstlerischen Verfahren den Zurichtungen der Kulturindustrie, ihrer »Informationsschwemme und Informationsmanipulation« entgegensteuern, da sie über die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein und durch Aufklärung über die Produktionsstrategien der »Informations- und Warenästhetik« zur Entwicklung der Kritikfähigkeit und zur Befähigung, die eigenen Interessen zu visualisieren, beitrage. (BBK 1973:6ff.). Die Ähnlichkeiten zwischen diesen und früheren Begründungen sind deutlich. Die Wirkungsversprechen künstlerischen Handelns in der Bildung sind für eine sozialdemokratische Regierung verheißungsvoll. Durch die unter Kanzler Willi Brand 1976 eingerichteten bundesweiten Modellversuche Künstler und Schüler, Künstler und Lehrlinge, Künstler und Kinder wird der Einsatz von Künstler*innen in deutschen Schulen zum ersten Mal auf breiter Ebene ausprobiert und wissenschaftlich begleitet (Bundesminister für Bildung und Wissenschaft 1978–1980). Diese Versuche enden 1982 mit der konservativ-liberalen Wende. Nur die Kulturpädagogische Arbeitsstelle für Künstlerweiterbildung an der UdK, eingerichtet im Zuge der Modellversuche als Ausbildungseinheit für Künstler*innen, die ihre Arbeit in den gesellschaftlichen Handlungsfeldern verorten wollen, bleibt bestehen – das heutige Institut für Kunst im Kontext, an dem die KontextSchule angesiedelt ist.
Der Begriff Freiheit taucht in den Postulaten marxistisch informierter deutscher Künstler*innen und Kunstpädagog*innen der 1970er Jahre häufig auf: Kunst müsse die Mitglieder der Gesellschaft dazu befähigen, »Freiheit als gesellschaftliches Ziel auszudrücken und die Voraussetzungen für solche Freiheit sichtbar werden zu lassen« (Kulturpolitik 1973:10). Sie berufen sich auf Vertreter*innen sozialistischer künstlerischer Bildungsarbeit aus den 1920er Jahren und adressieren emphatisch die Arbeiterklasse. Aber welche Arbeiterklasse, welche und wessen Freiheit sind gemeint? Die Zentrierung von weiß sein und Bürgerlichkeit setzt sich auch in dieser Phase künstlerischen Engagements in der Bildungsarbeit fort. Es sind weiterhin vor allem rassifizierte (Nicht-)Teilnehmer*innen, die Schwarzen und migrantisierten Teile der urbanen Bevölkerung, die in den kunst/pädagogischen Angeboten als defizitäre Andere entworfen oder komplett entnannt werden, und auch die Adressierung weißer Arbeiter*innenkinder, Jugendlicher und Erwachsener kommt nicht ohne Paternalismus aus. Wiederum gibt es in den künstlerisch-pädagogischen Projekten kaum Bündnisse mit existierenden Selbstorganisationen.
Die konservativ-liberale Wende 1982 sowie eine Hochkonjunktur auf dem Kunstmarkt führten ab Mitte der 1980er Jahre zu einem Rückgang des Engagements von Künstler*innen in der Bildungsarbeit und vor allem ihrer staatlichen Förderung. Jedoch schon in den 1990er Jahren, nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Blockstaaten, wurden Partizipation, das künstlerische Arbeiten im sozialen Raum und Institutionskritik im deutschen künstlerischen Feld ›wiederentdeckt‹. Orientiert an Vorbildern wie der von Mary Jane Jacobs 1992 kuratierten Ausstellung New Genre Public Art, die sozial engagierte Kunstprojekte im Stadtraum Chicagos zeigte, entstanden auch in Deutschland und Österreich zahlreiche Projekte der Kunst in Kooperation mit verschiedenen Öffentlichkeiten (vgl. Babias 1995). In dieser Phase entwickelten sich auch neue Initiativen von Künstler*innen und Kunstvermittler*innen, die sich in einer nun als künstlerisch und kritisch konzipierten Kunstvermittlung in Ausstellungen und in Zusammenarbeit mit Schulen engagieren, z. B. der Stördienst und später das daraus gegründete Büro trafo.K in Wien, sowie Kunstcoop© in Berlin. Bei letztgenanntem handelt es sich um ein Kollektiv, das sich am Institut für Kunst im Kontext im Rahmen eines von mir durchgeführten Lehrauftrags gründete und dem ich selbst angehörte. Ab diesem Moment schreibe ich den Text daher nicht mehr nur als Historiograf*in, sondern vor allem auch als Zeitzeug*in. Um dies zu markieren, wechsele ich die Zeitform des Textes und schreibe ihn in der ersten Person weiter.
Als Zeitzeug*in würde ich behaupten, dass Kunstcoop© versuchte, sich mit den der künstlerischen Bildungsarbeit eingeschriebenen Herrschaftsverhältnissen und der damit einhergehenden Herstellung defizitärer Alterität kritisch auseinanderzusetzen; dass sich das kritisch in kritischer Kunstvermittlung also nicht nur auf Kunst als Institution, sondern auch auf die Vermittlung selbst bezog. Im Kollektiv fanden sich queere sowie von Klassismus und Rassismus betroffene Mitglieder, die ihre Perspektiven und Erfahrungen in die Arbeit einbrachten. Die Praxis von Kunstcoop© fußte auf der Dekonstruktion von hegemonialen Vorstellungen von vermeintlichen Zielgruppen wie Familien oder Kinder, die in der Vermittlungsarbeit in Ausstellungsinstitutionen unhinterfragt reproduziert werden. Damit zusammenhängend, gründete ein Teil der Projekte in der Zusammenarbeit mit aktivistischen Gruppen, z. B. mit Selbstorganisationen aus Aidsaktivismus, mit dem Obdachlosentheater Ratten 07 oder mit Kein Mensch ist illegal. Kunstcoop© orientierte sich an im anglophonen Raum zeitgleich existierenden künstlerisch-aktivistisch-edukativen Projekten und weniger an den deutschen Vorläufern aus den 1970er Jahren, was sicher dabei geholfen hat, die Weiterschreibung einiger Leerstellen zu vermeiden. Was mir allerdings gerade vor diesem Hintergrund rückblickend ins Auge sticht (stechen im schmerzhaften Sinne), ist der weiterhin nur ausnahmsweise erfolgte Schulterschluss mit zeitgleich existierenden Schwarzen und migrantischen Selbstorganisationen. Dies, obwohl Kunstcoop© in den Jahren 2000 und 2001 die Ausstellungen ausgerechnet der nGbK mit Kunstvermittlung begleitete – einem basisdemokratischen Kunstverein mitten in Kreuzberg, der sich im gleichen Zeit-Raum wie zahlreiche dieser Selbstorganisationen gegründet hatte – z. B. die Initiative Schwarzer Deutscher oder die verschiedenen örtlichen migrantischen Arbeiter*innenvereine – und der bereits damals in weitgehender Ignoranz derselben agierte. Der Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril schlug im gleichen Jahr, in dem Kunstcoop© in der nGbK aktiv war, »kommunikative Reflexivität« als professionelle Haltung in der Bildungsarbeit vor:
»Professionelle Handlungen und Strukturen werden daraufhin befragt, inwiefern sie zu einer Ausschließung des Anderen und /oder zu einer reproduktiven Erschaffung des Anderen beitragen. […] Kommunikative Reflexivität – als das Medium, in dem sich eine Anerkennungspädagogik entfalten kann, […] meint weiterhin, dass das auf Veränderung zielende Nachdenken über die Verhinder-ungs- und Produktionsbedingungen des und der Anderen einen kommunikativen Vorgang bezeichnen sollte, der […] die Anderen mit einbeziehen sollte« (Mecheril 2001:11).
Dafür ist ein weiterer Aspekt von Reflexivität notwendig: das Wissen um die Verletzungsgewalt, welche Kunstvermittler*innen aufgrund ihres symbolischen Kapitals besitzen (wie z. B. formaler Bildung, akademisch und künstlerisch gebildeter Elternhäuser, sozialer Netzwerke, persönlicher Unterstützungsstrukturen) und ein verantwortungsbewusster Umgang mit den daraus resultierenden Machteffekten und Leerstellen. Kunstcoop© war demgegenüber letztendlich stärker mit sich selbst und der eigenen Benachteiligung beschäftigt: mit der Frage nach dem Künstlerischen in der Kunstvermittlung sowie vor allem auch mit Kritik an der Feminisierung und an der damit einhergehenden Abwertung und Prekarisierung von Kunstvermittlung im neoliberalen künstlerischen Feld. Auch wenn dies weiterhin wichtige und drängende Fragestellungen an der Schnittstelle von Kunst und Bildung sind, bleibt aus einer intersektional informierten Perspektive dennoch festzustellen, dass auch die kritische Kunstvermittlung – zumindest Kunstcoop © – Dominanzverhältnisse fortschrieb.
Am 11. September 2001 sah ich im Rahmen eines Kunstvermittlungsprojekts von Kunstcoop© zur Geschichte und Gegenwart des Medienaktivismus’ auf einem Monitor im Ausstellungsraum der nGbK die Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers fliegen. Im Rahmen der seither erfolgten Kulturalisierung von Rassismus, die sich z. B. in der Zuschreibung von terroristischen Tendenzen und Gewaltbereitschaft an eine vermeintliche Kultur artikuliert, und der damit verbundenen Normalisierung von antimuslimischem Rassis-mus, hat der Einsatz von Künstler*innen in der Bildungsarbeit innerhalb und außerhalb der Schule einen äußerst ambivalenten Boom erlebt. 2006 wurde seitens der UNESCO und unter wesentlicher Beteiligung deutscher Funktionäre die erste Fassung der Roadmap for Art Education lanciert. Dabei handelt es sich um ein Lobbypapier für Kulturelle Bildung mit weltweitem Geltungsanspruch. Dieses zeichnet sich durch einen neoliberal gewendeten, erneuten Rückgriff auf die schon aus dem viktorianischen England bekannten, eingangs benannten Begründungen für künstlerisch-edukative Arbeit aus: Vor allem Künstler*innen in der Bildungsarbeit sind Garant*innen für die aus bürgerlicher Sicht sinnvolle Freizeitgestaltung von deprivilegierten Gruppen, für den Erhalt und die Verbreitung bürgerlicher Moralvorstellungen, für die Herstellung sozialer Kohäsion bei gleichbleibender Privilegienverteilung und für das immer mal wieder notwendige Kompetenzen-Update mit Blick auf sich wandelnde Arbeitsmärkte (vgl. UNESCO 2005). In Deutschland sind seither vergleichsweise viele Fördermittel in Projekte der Kulturellen Bildung und in deren Wirkungsforschung geflossen. weiße Bürgerlichkeit ist dabei weiterhin die unbenannte Norm, die den Maßstab für die Erziehungsziele künstlerisch informierter Bildungsarbeit setzt. Genauso wenig gehören primitivistische Idealisierungen von Künstler*innen sowie rassistische und klassistische Veranderungen der Teilnehmer*innen der Vergangenheit an – im Gegenteil. Eine aktuelle Forschung, welche dies anschaulich herausgearbeitet hat, ist das Projekt Flucht – Diversität – Kulturelle Bildung. Eine rassismuskritische und diversitätssensible Diskursanalyse kultureller Bildungsangebote im Kontext von Flucht und Migration der Katholischen Hochschule NRW in Aachen. Darin wurden unter anderem bewilligte Anträge der staatlichen Förderprogramme Kultur macht stark und Kultur macht stark plus bis 2018, welche Menschen mit Fluchterfahrung adressierten, untersucht. Die Zwischenergebnisse fasste das Forschungsteam folgendermaßen zusammen:
»Nach aktuellem Stand unserer Analyse artikuliert sich Kulturelle Bildung im untersuchten Diskurs weitestgehend ohne rassismus- und machtkritisches Selbstverständnis. Eine selbstkritische Reflexion der Eingebundenheit in das deutsche Asyl- und Integrationsregime ist im Diskurs nahezu nicht erkennbar. Der hegemoniale Diskurs ist vielmehr geprägt von Dethematisierungen diskriminierender und benachteiligender Strukturen, und es lassen sich kulturalisierende sowie rassistische Wissensbestände aufdecken. Damit manifestiert sich ein instrumentelles Selbstverständnis Kultureller Bildung, welches die widerständigen Potentiale künstlerisch-ästhetischer Praxis weitestgehend ungenutzt lässt« (Bücken / Gerards / Meiers 2018, 8f.).
Die widerständigen Potentiale, welche das Zitat erwähnt, werden in der Gegenwart zunehmend eingefordert. Die UNESCO Roadmap for Arts Education zum Beispiel hatte den paradoxen Effekt, dass sich die weltweit existierenden Akteur*innen machtkritisch und aktivistisch ausgerichteter künstlerischer Bildungsarbeit darüber gewahr wurden, dass es sich bei dem, was sie tun, um ein global vernetztes Arbeitsfeld handelt. So gründete sich 2010 das Projekt Another Roadmap for Arts Education, das sich seither zur Aufgabe macht, Kolonialitätskritik an bestehenden Policies sowie eine dekoloniale Geschichtsschreibung und Praxisentwicklung an der Schnittstelle von Kunst und Bildung voranzubringen (siehe Literatur). In Deutschland sind es gegenwärtig mehr und mehr BI_PoC – Protagonist*innen, welche intersektionale Analysen, diskriminierungskritische Reflexionen und Transformationen in der Kulturellen Bildung einfordern und realisieren. Die KontextSchule unterstützt diese Entwicklung durch ihre kontinuierliche intersektional ausgerichtete Bildungs-, Befragungs- und Vernetzungsarbeit. Ihr Beispiel ermutigt dazu, auf der Herstellung hegemonial nicht (so stark) vereinnahmter Räume zu bestehen und sich in jedem Kontext auf eine Suche nach der darin möglichen Radikalität zu begeben.
[1] ↑ Die Inhalte dieses Textes beziehen sich auf ausführlichere Darlegungen aus dem Buch Die Bildung der A_n_d_e_r_e_n durch Kunst (Mörsch 2019) sowie dem Text Eine kurze Geschichte von KünstlerInnen in Schulen (Mörsch 2005). Beide Publikationen sind online gratis erhältlich (siehe Literatur).
Artist-educator ist eine im englischsprachigen Raum verbreitete Berufsbezeichnung für Künstler*innen, die im Bildungsbereich arbeiten.
Bundeskongress Bildender Künstler siehe weiter unten im Text.
Zu den Verstrickungen der CIA in diese Programmatik siehe Stonor Saunders 2000. Zu den postnazistischen Kontinuitäten der ersten Kunstmanager der deutschen Nachkriegsperiode
siehe Redmann 2020.
Zum Zeitpunkt da dieser Text verfasst wird, entsteht eine Doktorarbeit von Claudia Hummel über ideengeschichtliche Bezugnahmen von Künstler*innen in der Bildungsarbeit im Berlin der 1970er Jahre.
Zum Zeitpunkt da dieser Text verfasst wird, entwickelt das Netzwerk Schnittpunkt Aus-stellungstheorie und Praxis gemeinsam mit dem Kunstvermittlungskollektiv trafo.K und in Kooper-ation mit der Universität für Angewandte Kunst Wien ein Archiv der Vermittlung: Einen virtuellen
wie physischen Ort, an dem Positionen, Erinnerungen, Erfahrungen und Projekte an der Schnittstelle von Kunst, Bildung, Politik und Gesellschaft versammelt werden.
Bei Obdachlosentheater handelt es sich um eine Selbstbezeichnung des Kollektivs.
Ähnliche Zugänge finden sich auch bei dem bis heute aktiven Kunstvermittlungskollektiv
Büro trafo.K (siehe Literatur).
Einen Überblick über die Gründungsgeschichte Schwarzer und migrantischer Selbst-organisation gibt Scharenberg 2020.
Stellvertretend seien hier die Teams der Initiativen Kulturformen und Diversity Arts Culture unter dem Dach der Stiftung Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung in Berlin genannt.
(siehe Literatur). Vgl. auch Micossé-Aikins, Rajanayagam und Erni in diesem Band, Seite 28ff.
Bast, H.K. (1981): Ein Ende und ein Anfang. In: HdK und BBK Berlin (Hg.): Künstler und Kulturarbeit. Modellversuch Künstlerweiterbildung 1976–1981. Berlin: 7–9.
Babias, Marius (Hg.) (1995): Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren. Dresden.
Baumann, Leonie (2004):...und das soll Kunst sein... Kunstaktionen und Öffentlichkeit – ein Einblick in 40 Jahre Praxis. In: AdKV (Hg.): Der friesische Teppich. Ein Gewebe aus Kunst, Kirche & Kommunikation. Berlin.
Bücken, Susanne/Gerards, Marion/Meiers, Johanna (Hg.) (2018): Kulturelle Bildung als hegemonialer Diskurs. Ergebnisse einer rassismuskritisch positionierten Forschung. Schriftliche Fassung zum Vortrag bei der Abschlusstagung des BMBF Förderschwerpunkts »Forschungsvorhaben zur kulturellen Bildung«. URL: https://katho-nrw.de/fileadmin/media/hochschule/Lehrende/Gerards_Marion/Schriftliche_Fassung_Vortrag_FluDiKuBi_Abschlusstagung_BMBF_08.10.2019.pdf [20.09.2022].
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1978): Die gemeinsame Vorphase des Modellversuchprogramms »Künstler und Schüler«. BMBW Werkstattbericht Nr. 4. Bonn.
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1978): Modellversuch Künstler und Schüler, Zwischenbilanz in zehn Berichten. BMBW Werkstattbericht Nr. 11. Bonn.
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Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) )1980): Kunst für Kinder. Modelle, Projekte und Erfahrungen in der Kulturarbeit mit Kindern. BMBW Werkstattbericht
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