MITKOLLEKTIV:
KATIE LEE DUNBAR (PROJEKTLEITUNG), HAGAR OPHIR (CO-LEITUNG), KAREN MICHELSEN CASTAÑÓN (CO-LEITUNG), MAY LEE, LISA RIBLER, MACIRÉ SCHUSTER
im Gespräch mit Janice Faith Heinrich
Am 26.04.2021 kamen wir zusammen, um uns gemeinsam über unseren Prozess als mitkollektiv auszutauschen. Wir diskutierten darüber, was uns zusammengeführt hat, was wir gelernt haben und was wir uns für die Zukunft erhoffen, indem wir folgende Fragen beantworteten:
Wie würdet ihr persönlich euer Projekt beschreiben? Würdet ihr sagen, es ist Kunst? Ist es Bildung? Oder etwas ganz anderes?
Wie vermittelt ihr euch gegenseitig Konzepte, auf die ihr euch bezieht, also z. B. künstlerische Konzepte oder päda-gogische Konzepte?
Wie lernt ihr untereinander, voneinander? Wie gestaltet sich das?
Könnt ihr ein wenig über die Methoden, die ihr in der Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb des Kollektivs anwendet, erzählen?
Wie beeinflusst eure Rolle als Künstler*innen und/oder Lehrer*innen, was ihr in eure Arbeit bringt? Und wie wird das beeinflusst von eurer Erfahrung im Kollektiv?
Gibt es irgendetwas, das ihr für die Zukunft plant, irgendetwas, das ihr gerne erreichen würdet? Wo seht ihr das Projekt?
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Katie: Wir sind heute hier zusammengekommen, um gemeinsam unseren Prozess als mitkollektiv zu reflektieren und uns darüber auszutauschen.
Karen: Wir sind eine Gruppe Künstler*innen und Pädagog*innen, die gemeinsam künstlerische Interventionen in Bildungskontexten intersektional und antirassistisch gestalten. Wir nennen uns mitkollektiv und unsere Positionierungen innerhalb der Gruppe ergeben sich aus unseren alltäglichen Erfahrungen als Schwarze und Personen of Colour, als nicht-binäre, queere Personen und aus unseren migrantischen Perspektiven, Klassen und Genderzugehörigkeiten.
Maciré: Heute möchten wir besprechen, was wir im Rahmen des Projekts der kulturellen Bildung Reimagine Jetzt! als Kollektiv erlebt haben. Und dieses Kollektiv namens mitkollektiv besteht zum Beispiel aus mir: Ich bin Maciré. Ich arbeite seit sechs Jahren als Lehrerin in Berlin.
Hagar: Ich bin Hagar. Ich bin Künstlerin und wurde als Historikerin, Kostümbildnerin und Tänzerin ausgebildet. In meiner Arbeit verwende ich Geschichten als Bühne für die Mobilisierung von politischem Wandel.
Karen: Mein Name ist Karen und ich arbeite als Künstlerin und Filmemacherin, auch in Bildungskontexten.
Lisa: Ich bin Lisa. Ich bin Lehrkraft an einem Förderzentrum und habe Kunst studiert.
May Lee: Ich heiße May Lee und bin Lehrerin einer 5. und 6. Klasse in Berlin.
Katie: Ich bin Katie und arbeite als Künstler*in und Pädagog*in.
Janice: Ich bin Janice und studiere Englisch und Gender Studies. Ich bin Teil von Hör x zu, wo wir versuchen, eine Plattform für Studierende, Lehrkräfte und alle anderen zu schaffen, um Bildung zu einem braver space, einem mutigeren Raum, zu machen und um über Antirassismus und Inklusion, Diversität und so weiter aufzuklären. Dann gehe ich gleich zur ersten Frage über, nämlich – was hat euch alle zusammengebracht? Wie habt ihr euch getroffen? Wie hat sich dieses Kollektiv gebildet?
Karen: Wir haben uns alle in der KontextSchule, einer Fortbildung des Fördervereins Kunst im Kontext, kennengelernt. Wir haben ein gemeinsames Verständnis von Fragen entwickelt, die uns wichtig sind – zu Rassismus in der Bildung, zu Machtfragen und daraus ist dann mit der Zeit mitkollektiv entstanden.
Janice: Könntet ihr mehr über eure Zusammenarbeit erzählen?
Katie: Bevor ich das tue, wollte ich etwas zu dem hinzufügen, was Karen eben gesagt hat. Nämlich, dass ich das Gefühl habe, dass wir uns – innerhalb der Gruppe von Teilnehmenden der KontextSchule – wirklich zueinander hingezogen fühlten und ähnlich auf Themen und Inhalte reagiert haben, die in diesem Raum gesagt wurden. Was unsere Zusammenarbeit angeht, so haben wir am Anfang viel Zeit damit verbracht, unsere Prozesse als Kollektiv gemeinsam zu entwickeln und uns mit Entscheidungsfindung im Konsens auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wie wir zu Beginn unseres Projekts als Kollektiv arbeiten wollen.
Janice: Gibt es vielleicht Tipps, die ihr für andere Kollektive habt? Zum Beispiel Strategien, die ihr entdeckt habt?
May Lee: Wie Katie schon erwähnte, haben wir am Anfang viel Energie darauf verwendet, eine Art Struktur und Organisation unseres Kollektivs zu entwickeln, und das hat viel Zeit und Arbeit gekostet. Aber wir waren uns über unseren Code of Conduct, ein Set von Absprachen, das wir uns für die Zusammenarbeit gegeben haben, einig und konnten uns über die Ansprüche, die wir in der Gruppe hatten, verständigen. Wir hatten viele Gespräche darüber, wie wir miteinander kommunizieren wollen, was unsere Rollen sind, wie wir die Arbeit aufteilen werden, wie die Finanzen aussehen würden. Das alles war sehr transparent. Ein wichtiger Tipp für Kollektive ist also, sich wirklich die Zeit zu nehmen, um die Grundlagen zu schaffen und eine Art Gruppenidentität zu ent-wickeln. Wir haben einen langen Prozess durchlaufen, um uns einen Namen zu geben. Alles, was wir am Anfang taten, diente dazu, uns für den Rest des Jahres und den Rest des Projekts zu rüsten. Ich empfehle also – und denke, wir alle würden das empfehlen – sich diese Zeit zu Beginn einer Zusammenarbeit zu nehmen, um sich über Systeme, Organisation und Kommunikation zu verständigen und Bedürfnisse zu klären. Das war für uns sehr wichtig.
Hagar: Ich kann hier ergänzen und vielleicht auch noch mehr zu der Frage davor sagen. Diese gemeinsame Basis, die wir am Anfang aufgebaut haben, und an der wir auch weiter arbeiten – diese Strukturen funktionieren bis heute gut für uns und unsere Prozesse. Auf diese Weise können wir in kleinen Teams arbeiten und sind handlungsfähig, ohne für jede kleine Entscheidung abwarten zu müssen, bis das ganze Kollektiv zustimmt. Wir arbeiten an einer kleinen Sache, einem Detail unseres Projekts und dann zeigen und erklären wir es dem ganzen Kollektiv und fragen nach der Meinung der anderen.
Janice: Ich würde gerne wissen, wie eure Rolle als Künstler*innen und/oder Lehrer*innen beeinflusst, was ihr in eure Arbeit einbringt? Und wie beeinflusst eure Erfahrung im Kollektiv, was ihr in eure Arbeit einbringt?
Katie: Ich habe Erfahrung als Sonderpädagog*in und als Künstler*in. Als solche*r konnte ich viel Erfahrung mit Community-Prozessen sammeln – also damit, wie eine Gemeinschaft entstehen kann und welche Art von Diskussionsprozessen dafür wichtig sind. Gerade zu Beginn des Projekts hat mir diese Erfahrung geholfen, Prozesse zwischen uns besser zu verstehen, z. B.: Welche Zeitfenster Lehrpersonen zur Verfügung standen, um sich mit uns treffen zu können und welche Kapazitäten sie neben dem Unterrichten hatten, was überhaupt realistisch war. Aus meiner Sicht war das auch ein Prozess, um unseren Anfang zu verstehen – wie sieht der Alltag von Pädagog*innen und Lehrpersonen überhaupt aus? Und wie können wir diese Erfahrungen von Lehrpersonen und Künstler*innen in die Arbeit unseres Kollektivs einbringen? Es ist wichtig, dass beide Sichtweisen in die Arbeit einfließen, damit wir die Projektwochen und unser Toolkit, nach den Erfahrungen und Bedürfnissen aller, gestalten können. Dadurch, dass wir zum Beispiel das Toolkit um die täglichen Erfahrungen der Lehrpersonen und Künstler*innen herum konstruieren, achten wir darauf, dass dessen Methoden für alle machbar sind.
Janice: Das hört sich an, als würdet ihr viel kommunizieren und euch gegenseitig informieren. Gab es jemals Herausforderungen zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen einzelner Mitglieder des Kollektivs? Und habt ihr vielleicht ein Beispiel für einen Konflikt, den ihr lösen konntet und dafür, wie ihr ihn gelöst habt?
Karen: Gruppenarbeit ist sehr dynamisch, und wir sind alle Individuen in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Diskriminierungserfahrungen.
Auch die COVID-19-Situation hat verändert, worauf wir unsere Energie verwenden können. Ein wirklich interessantes und besonderes Beispiel war die Feststellung, wie viel [bzw. wie wenig] Zeit, Energie und Geld wir im Verhältnis zu unseren finanziellen Möglichkeiten in bestimmte Projekte in Schulen investieren konnten. Und dann zu sehen, was uns wirklich interessiert: zum Beispiel die Arbeit an den Lehrer*innen-Workshops, wofür wir jedoch am wenigsten Geld in unserem Projekt bekommen haben. Deshalb war es oft nicht einfach, unsere Interessen und unsere Ressourcen miteinander zu vereinbaren. Wenn wir keinen Konsens finden konnten, sagten wir uns dennoch: »Okay, wir haben es versucht und wir versuchen es weiter«. Das hat mir viel bedeutet.
Maciré: Manchmal ist es auch wichtig, sich Hilfe von außen zu holen, um nochmal eine unabhängige Sicht zu bekommen. Ich glaube, das hat uns geholfen, die einzelnen Standpunkte innerhalb des Kollektivs besser zu verstehen.
Katie: Teil dieses Prozesses, und anderer auch, ist, dass wir vieles verändert und angepasst haben. Dieser spezifische Konflikt ist auf die Struktur zurückzuführen, die uns von den Förder*innen vorgegeben wurde. Diese vorgegebene Struktur war meiner Meinung nach Auslöser für den Konflikt, da wir nicht in der Lage waren, frei über die Verteilung der uns gegebenen Mittel zu verfügen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir angefangen, unsere Kapazitäten zu besprechen und wöchentliche Treffen für Hagar, Karen und mich, sowie ein monatliches Treffen für das gesamte Team zu vereinbaren. Dadurch konnten wir immer offen über alles kommunizieren, was uns beschäftigte.
Janice: Wie würdet ihr persönlich euer Projekt beschreiben? Würdet ihr sagen, es ist Kunst? Ist es Bildung? Oder ist es etwas ganz anderes? Wie denkt ihr darüber?
Hagar: Es ist Bildung und es ist Kunst und all das in einem. Vor allem, wenn man Kunst nicht als etwas betrachtet, das die Realität widerspiegelt, sondern als etwas, dessen Rolle darin besteht, etwas aufzubauen und [neu] zu denken – eine andere Perspektive auf das Geschehen zu bringen und dabei Werkzeuge zu nutzen, die bereits vorhanden sind. Kunst und Bildung besitzen beide die Eigenschaft, zwar Teil von Machtstrukturen zu sein, dabei aber in vielerlei Hinsicht Vorschläge zu machen, wie mit diesen Strukturen umgegangen werden kann und wie sie herausgefordert werden können. In der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten und gemeinsam denken – und wir vereinen unterschiedliche Weisen zu denken – glaube ich, dass wir kontinuierlich dabei sind, ein Kunstprojekt zu bauen. Dieses steht immer in Verbindung mit der Realität: Dazu, was für die Realität in der Schule, im Klassenzimmer gebraucht wird; dazu, was eine Lehrperson tun oder nicht tun kann. Es ist also wie ein Tanz, der all diese kleinen verschiedenen Teile miteinander verbindet.
Janice: Dieses Jahr und auch letztes Jahr war alles ziemlich anders. Vor allem wegen COVID. Hat sich das sehr auf eure Arbeitsweise ausgewirkt? Wie habt ihr euch an die veränderte Realität angepasst? Glaubt ihr, dass ihr in der Lage seid, die Realität zu beeinflussen, oder reagiert ihr nur darauf, wie die Realität euch beeinflusst?
May Lee: Vor Corona haben wir uns persönlich getroffen, und wir mussten lernen, uns an Online-Plattformen anzupassen. Ich erinnere mich an unsere erste Veranstaltung, bei der wir Probleme hatten, unsere Vorhaben technisch umzusetzen. Wir konnten uns gegenseitig nicht hören. Wir konnten uns nicht sehen. Und dann haben wir mit der Zeit gelernt, wie wir unsere Treffen sinnvoll gestalten können. Obwohl es so schwer ist, nicht miteinander verbunden zu sein, glaube ich, dass wir es geschafft haben, einen Weg zu finden, miteinander in Verbindung zu treten und online zu kommunizieren. Wir halten monatliche Treffen online ab und ich glaube, wir haben mittlerweile das ganze Projekt [auf eine Online-Nutzung hin] angepasst, was ich ziemlich beeindruckend finde. Wir haben die Lehrer*innen-Workshops online durchgeführt und darüber nach-gedacht, wie wir unsere Pädagogik in ein Online-Format übertragen können. Da waren wir echt anpassungsfähig. Es ist definitiv nicht das, was wir bevorzugen würden, aber wir mussten wirklich flexibel und kreativ sein, um dieses ganze Projekt online durchzuführen.
Hagar: Ich möchte noch hinzufügen, dass wir eine Menge dafür getan haben, um das Projekt online zu stellen, aber es war uns klar, dass wir bestimmte Dinge nicht online machen würden. Wir hatten das Glück, dass wir einige Projekte in der Schule und persönlich mit Kindern machen konnten, bevor der Lockdown stattfand. Für uns war klar, dass die Art von Bildung, die wir jungen Menschen und jüngeren Kindern zu bieten haben, kein zusätzlicher Online-Kurs ist, wenn sie alleine in ihrem Zimmer sind.
Katie: Um noch was hinzuzufügen – wir haben nur die Lehrer*innenfortbildung und das Hör x zu-Projekt, an dem du beteiligt bist, Janice, online durchgeführt.
Das Projekt Hör x zu finde ich ein wirklich tolles Beispiel dafür, wie wir es geschafft haben, während der COVID-19-Pandemie weiterhin zusammenzuarbeiten. Wir haben uns immer persönlich beim Young Arts Neukölln getroffen. Unser Prozess bei Hör x zu war unserem Prozess mit dem mitkollektiv sehr ähnlich, insofern würde ich sagen, dass es für uns wirklich wichtig war, dass wir uns zuerst in Person getroffen haben und in der Lage waren, [uns zu Beginn über ein paar Dinge persönlich auszutauschen]. Als wir uns dann online trafen, war das nicht das Einzige, was wir voneinander wussten. Wir haben also keine Online-Projekte mit Leuten begonnen, die wir nicht bereits kannten. Das ist eine Entscheidung, die wir getroffen haben, und ich finde, es ist eine wichtige Entscheidung.
Janice: Das sehe ich genauso.
Katie: Wir haben online mit dem Lehrer*innen-Sensibilisierungs-Workshop angefangen, was sich irgendwie anders anfühlte, aber ich würde sagen, dass es überraschenderweise auch als Online-Format ziemlich gut funktioniert hat. Dafür haben wir von den Lehrer*innen sehr gutes Feedback bekommen. Aufgrund der COVID-19-Regulierungen konnten wir nicht an die Schulen gehen und hatten somit keine andere Wahl.
Janice: Meine nächste Frage wäre, ob es eine bestimmte Methode gibt, die ihr als Kollektiv anwendet – z. B. im Prozess eurer Zusammenarbeit oder beim Umgang mit Konflikten? Und – lässt sich diese Methode auf eure Bildungsarbeit mit Menschen übertragen? Werdet ihr sie weiterhin anwenden – und wenn ja, wie? Vielleicht könnt ihr ein wenig von den Methoden, die ihr in der Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb des Kollektivs anwendet, erzählen.
Lisa: Eine Methode, die wir zum Beispiel benutzt haben, die ich vor allem am Anfang sehr wichtig fand, bestand darin, durch diesen Konsensusprozess zu gehen. Gemeinsam zu überlegen, wie wir über diesen Konsensus zu Entscheidungen kommen. Das fand ich einen sehr fairen Weg und dadurch waren irgendwie alle beteiligt. Diese Methode lässt sich auch gut in den Unterrichtsalltag integrieren. Eine andere Methode war z. B., dass wir jeweils am Anfang eines neuen Treffens überlegt haben, was unsere Gruppenregeln sein sollten. Wie wir miteinander umgehen wollen, was uns wichtig ist und das Einverständnis von allen Beteiligten, mit denen wir dann zusammenarbeiten, zu erfragen oder auch um Ergänzung zu bitten, dieses Set an Regeln für Ergänzungen offen zu halten.
Maciré: Wir haben z. B. auch eine Projektwoche an der Schule gemacht und da haben wir sehr viele unterschiedliche Methoden verwendet. Sowohl klassische künstlerische Methoden, als auch Methoden, die man an der Schule vielleicht öfter verwendet, wie z. B. Mindmaps erstellen. Im Unterschied zum Unterricht, den ich sonst in der Schule gebe, ist mir bei unserer Projektwoche z. B. aufgefallen, dass durch Hagar und Katie viel mehr Körper-Arbeitsmethoden integriert wurden – so etwas wie Bodypercussion zum Beispiel. Wir haben auch mit anderen Bewegungsmethoden gearbeitet, um nicht nur kognitive Zugänge zu Fragestellungen anzubieten. Eben, körperbetont zu werden. Das war für mich als Lehrkraft auch interessant. Ich unterrichte normalerweise keine Kunst und das so zu sehen, und was das mit Schüler*innen macht, hat mich auf jeden Fall sehr bereichert. Ich glaube auch für die Schüler*innen war es auf jeden Fall ein anderer Ansatz als das, was man sonst im Unterricht so erfährt.
Janice: Was mich noch interessiert ist, wie in eurer Arbeit als Kollektiv theoretische und praktische Arbeit zusammenkommen und wie ihr das miteinander verknüpft.
Karen: Ich glaube, das knüpft an deine letzte Frage an, Janice. Ich kann mich z. B. daran erinnern, dass Hagar und Maciré mal ein Wochenende organisiert haben, wo sie verschiedene Inputs vor-bereitet hatten. Sie hatten alle Mitglieder des Kollektivs eingeladen, ebenfalls etwas als Input zu teilen. Wenn wir das wollten, konnten wir also etwas einbringen, und das war immer total spannend, weil alle aus ihren Kontexten ihr Wissen, ihre Erfahrung – sowohl persönliche als auch andere Interessen und Praxen – mit ins Kollektiv eingebracht haben. Und dann haben wir gemerkt, dass diese Inputs super wichtig sind, weil das Freude erzeugt. Es erzeugt Freude, dass wir nicht nur in diesem Organisieren untergehen, was ja einen sehr großen Teil unserer Arbeit ausmacht – zu organisieren, wie wir arbeiten, wie wir was machen. Sondern, dass wir anders zum Nachdenken zusammenkommen. Das hat May Lee Bringing the joy genannt. Das fand ich total schön und das haben wir tatsächlich für alle unsere Monthly Meetings beibehalten und das ist für mich etwas, was ich auch für meine Arbeit, sowohl im Kollektiv, als auch in anderen Kontexten, immer versuchen werde, mitzunehmen.
Janice: Vielleicht habt ihr das teilweise schon angesprochen – aber wie vermittelt ihr euch gegenseitig Konzepte, auf die ihr euch bezieht, also z. B. künstlerische Konzepte oder pädagogische Konzepte? Wie lernt ihr untereinander, voneinander? Wie gestaltet sich das?
Katie: Ich glaube, das hat auch viel damit zu tun, wie wir uns um unsere Konflikte kümmern. Schon die Art und Weise, wie diese Frage formuliert ist, ist ein Teil eines Konflikts, den ich sehe. Denn ich arbeite als Künstler*in-Pädagog*in, teilweise zeitgleich und teilweise getrennt voneinander. Die Art und Weise, wie ich an meine Kunstprojekte und an meine Bildungsprojekte herangehe, ist dieselbe, denn es geht vor allem um den Prozess und darum, was ich mit einer Gruppe von Menschen mache. Ob ich also mit einer Gruppe von Leuten Kunst mache oder gemeinsam [mit anderen] zu einem Thema, wie z. B. intersektionaler Identität lerne – meine Herangehensweise ist dieselbe. Der Prozess des Lernens unterscheidet sich nicht vom Prozess des Gestaltens. Wenn wir gemeinsam Kunst entwickeln, dann gestalten wir – vielleicht mit dem Ziel, am Ende eine Performance oder einen Podcast zu haben. Und wenn wir gemeinsam zu einem Thema lernen, gibt es vielleicht die Hoffnung, dass daraus neues Wissen darüber entsteht, was intersektionales Lernen oder ein intersektionales Klassenzimmer sein könnte. Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Art, wie ich unterrichte, und der Art, wie ich Kunst schaffe, denn der erste Schritt jedes Prozesses ist [die Frage]: was braucht dieser Raum? Was wollen wir erreichen? Und dann ist jede*r in diesem Raum dafür verantwortlich, diese Frage zu beantworten. Was wollen wir gestalten? Und wie wollen wir die Strukturen und die Art und Weise, wie wir dorthin kommen, gestalten? Ich sehe meine Aufgabe [eher in der Rolle] als Vermittler*in, die*der entweder ein künstlerisches Ergebnis oder ein Lernergebnis vermittelt. Darin, sicherzustellen, dass wir [geeignete] Methoden [zur Hand] haben, und dass diese mit den Inhalten übereinstimmen, wie wir zum Ziel kommen wollen.
Hagar: In gewisser Weise [steckt die] Verbindung zwischen Theorie und Praxis auch in der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten. Darin, was Katie gerade beschrieben hat: [Die Frage danach], was der jeweilige Raum braucht, stellt sich immer. Und zwar nicht nur in der Theorie. Es ist immer [auch ein Teil] der Praxis, wie wir arbeiten: die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, wie wir etwas aufbauen, an unseren Finanzen arbeiten, wie wir andere Menschen, die wir treffen, behandeln.
Janice: Als letzte Frage würde ich gerne wissen, wie jede*r von euch die Zukunft des mitkollektiv sieht – [worauf ihr hofft, was ihr euch jeweils wünscht]. Gibt es irgendetwas, das ihr für die Zukunft plant, irgendetwas, das ihr gerne erreichen würdet? Wo seht ihr das Projekt zukünftig?
Katie: Meine Hoffnung für die Zukunft dieses Kollektivs ist es, die Teile unserer Projekte fortzuführen, die Energie in sich bergen. Im Projekt Hör x zu steckt z. B. eine Menge Energie von Leuten, die mit Ideen kommen, wie wir das Bildungssystem verändern können, und die den Impuls haben, diese Materialien weiterzuentwickeln. Es gibt eine Menge großartiger Ideen zu Themen, die den Mit-wirkenden bei Hör x zu wichtig sind.
Und auch bei den Lehrer*innen-Workshops gibt es ein wirklich großes Bedürfnis danach, weiter über die Dinge nachzudenken, die wir in diesen Workshops reflektieren. Ich sehe den Bedarf [nach solchen Angeboten] und freue mich wirklich darauf, diese Arbeit fortzusetzen. Und dann auch unser Toolkit, bei dem es um die Entwicklung von Ressourcen für Menschen geht, die künstlerisch und machtkritisch in Schulen arbeiten und analysieren wollen, was die Rahmenbedingungen für die Arbeit in einer Schule sind, und wie wir Strukturen zur Unterstützung von Menschen schaffen können, die in Schulen arbeiten. Diese drei Bereiche unserer Projekte haben aus meiner Sicht eine lange Lebensdauer, und ich bin gespannt, was die Zukunft für diese Arbeit bringen wird.
Lisa: Ich würde mich komplett den Schwerpunkten anschließen, die Katie schon genannt hatte. Ergänzend würde ich sagen, dass auch die Projektwochen aus meiner Sicht ein riesengroßes Potenzial haben. Eine große Chance sehe ich auch darin, in den Schulen mit künstlerischen Methoden gemeinsam an eigenen Geschichten zu arbeiten [wie wir es im Rahmen von Reimagine Jetzt! getan haben], und z. B. auch mal an einem Förderzentrum mit einer Oberstufe so etwas anzugehen.
Karen: Ich schließe mich da Lisa und Katie an. Die Frage nach Zukunft ist für mich auch eine Frage danach, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Vom Quechua her liegt die Zukunft hinter uns. Die Vergangenheit ist vor uns. Durch die Erfahrungen in der KontextSchule habe ich gemerkt, dass schon seit langer Zeit engagierte Künstler*innen und Lehrer*innen auch in Schulstrukturen versuchen zu wirken und, dass ein Bewusstsein für diese Strukturen besteht. Wir kommen nicht mit etwas vollkommen Neuem an, sondern vielmehr unsere Energien, unsere Erfahrungen, unser Engagement an etwas anschließen, was schon da ist und wozu wir Netzwerke aufbauen. Die Menschen, die wir durch die Lehrer*innen-Workshops kennenlernen, sind für mich das Spannende. Ich glaube, es gibt durchaus einige Leute, die sich nicht an Unterdrückungssystemen in Schulen beteiligen wollen und das finde ich sehr ermutigend und gibt mir sehr viel Hoffnung.
Maciré: Ich kann mich da eigentlich nur noch anschließen. Und vielleicht allgemein diese empowernde Erfahrung weiterzu-machen: andere Lehrer*innen zu sehen, die sich auch ähnliche Fragen stellen und auch an ihrer Schule etwas verändern wollen. Diese Energie zu kanalisieren und dass wir da Allianzen bilden und uns vernetzen, das wäre meine Hoffnung für die Zukunft.
May Lee: Ich ziehe leider aus Berlin weg, aber was ich mitnehmen werde, ist die Erfahrung, authentisch in einer Gruppe zu arbeiten, Konflikte zu lösen und wirklich zu kommunizieren. Ich glaube nicht, dass ich jemals Teil einer Gruppe gewesen bin, in der so viel Zeit der Kommunikation gewidmet war. Und ich denke, das passiert meistens nicht – besonders als Lehrperson in Schulen sieht man dieses Niveau der Zusammenarbeit nicht. Ich möchte diese Erfahrung auf jeden Fall mitnehmen – als Lehrerin habe ich so viel gelernt, weil ich Teil von mitkollektiv war und diese Strategien, Methoden und Ideen, aber auch die Energie mit in meine zukünftigen Klassen von Schüler*innen nehmen kann. Darauf freue ich mich.
Hagar: Ich sehe eine Zukunft für die begonnene Arbeit. Wenn ich darüber nachdenke, was als Nächstes kommen kann, oder was ich beibehalten möchte, dann ist das definitiv das Toolkit. Es ist keine Online-Plattform, die automatisch funktioniert, sondern die Fürsorge aller Beteiligten benötigt.
Dieser Werkzeugkasten stellt für mich einen Rahmen dar, der abhängig ist von den Kräften unserer Treffen und unserer Verbindungen. Für mich ist sehr wichtig, Teil von etwas zu sein; gemeinsam mit unterschiedlichen Leuten, die verschiedene Erfahrungen haben, etwas möglich zu machen und weiterzumachen und nicht das Hindernis, sondern tatsächlich die Feder zu sein, die uns antreibt, etwas zu tun und Konflikte und Lösungen zu finden. Ich stelle mir [für die Zukunft] also vor, dass das Toolkit und einige kleine Projekte durchgeführt werden können.
Janice: Möchte noch jemand etwas hinzufügen?
Katie: Ich würde gerne etwas hinzufügen, weil ich denke, dass ich dem, was ich von allen in unserem Kollektiv gehört habe, von ganzem Herzen zustimme. Das ist etwas, was mich wirklich an der Zukunft begeistert. Und das, was Hagar gesagt hat, nämlich dass Unterschiede, die Differenz und der Konflikt im Mittelpunkt stehen, auch. Die Unterschiede innerhalb des Prozesses und die Differenzen sind das, was die kollektive Arbeit stärker macht, und ich glaube, dass sie alle Arbeiten stärker machen. Die Unterschiede und die Vielfalt, wie wir als Einzelne an die Dinge herangehen. Ich denke, das ist etwas, das ich auch mitnehmen werde.
Diese Unterhaltung fand in englischer und deutscher Lautsprache statt und wurde für diese Publikation ins Deutsche übersetzt und redaktionell bearbeitet.
Ein Projekt, das als unser Abschlussprojekt im Rahmen der KontextSchule 2018–2020 begann und als unabhängiges Projekt, gefördert vom Projektfonds für Kulturelle Bildung, Fördersäule 2, über die Fortbildung hinaus, weitergeführt wurde.
Zum Beispiel: Entscheidungsprozesse und volle finanzielle Transparenz. Diese Methoden sind im Toolkit zu finden. Vgl. mitkollektiv in diesem Band, Seite 153ff.
»Aufgrund der zyklischen Zeitauffassung der Anden braucht das Ideal des ›gut Lebens‹ […] nicht eine nach vorwärts gerichtete Utopie zu sein. Entgegen der abendländischen Fortschritts- und Entwicklungsideologie (›Desarrollismus‹) liegt die eigentliche Zukunft des »gut Lebens« für den andinen Menschen hinter sich. Dies zeigt sich in der Vorstellung, dass die Bezeichnungen für ›früher‹ (nayra/ñawpa) und ›später‹ (qhipi) dem abendländischen Verständnis genau entgegengesetzt sind: nayra und ñawpa werden mit dem Gesichtssinn assoziiert (nayra und ñawi sind die ›Augen‹), und qhipi bedeutet eigentlich ›Rücken‹ oder ›hinten‹. Wenn man jemandem auf Aymara ›auf Wiedersehen‹ sagt – qhipürkama – dann bedeutet die Wortzusammensetzung in der Umgangssprache ›bis an einem anderen Tag‹, aber wörtlich bedeutet sie ›bis (kama) an einem Tag (uru), der zurück liegt (qhipi)‹. Für den andinen Menschen ist die Vergangenheit (nayra/ñawpa) bekannt und liegt deshalb offen vor unseren Augen (nayra/ñawi); die Zukunft dagegen ist unbekannt und liegt somit verborgen im Rücken. Die Zukunft (qhipi) – die kleinen Kinder – wird denn auch als Schatz im Tragetuch (q’ipi) auf dem Rücken getragen und nicht etwa auf der Brust. In anschaulicher Weise ausgedrückt: der andine Mensch geht, mit dem Blick auf die Vergangenheit als Orientierung und Richtschnur gerichtet, rückwärts der Zukunft der kommenden Generationen entgegen« (Estermann o.A.), (siehe Literatur).
Website mitkollektiv. URL: https://mitkollektiv.de/en/reimagine-now/ [17.11.2022].
Website Hör x zu. URL: https://www.instagram.com/mitkollektiv/ [17.11.2022].
Website Toolkit. URL: https://mitkollektiv.de/toolkit-fragebogen/ [17.11.2022].