Nello Fragner
In diesem Beitrag erzähle ich von Momenten vor und während der KontextSchule 2016–2018. Fragen von diskriminierungskritischem Lernen, Kollektivität und Gruppendynamik stehen dabei im Zentrum. »Raum mit Grenze« – wofür bot die KontextSchule für mich Raum und was waren die Grenzen, die ich wahrgenommen habe?
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Einstieg: Freie Klasse (Wien)
→ KontextSchule (Berlin)
In meiner Familie bin ich die erste Person, die einen Abschluss an einer Höheren Schule gemacht und die Uni besucht hat. Als ich nach mehreren Anläufen in die Klasse für Fotografie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien aufgenommen wurde, empfand ich Zweifel, Stress und Anstrengung. In den ersten Monaten hatte ich immer wieder die Fantasie, dass ich nur aus Versehen auf-genommen worden war und jederzeit auffliegen könnte.
Inzwischen kenne ich den Begriff des imposter syndrome – dem Eindruck, am falschen Ort oder nicht gut genug zu sein, den erreichten Erfolg nicht verdient zu haben, sich die eigene Position irgendwie durch Vortäuschung erschlichen zu haben. Diese Gedanken und Gefühle in meine Familien- und Bildungsbiografie einzuordnen und sie als etwas Transgenerationales zu betrachten, ist für mich genauso erleichternd wie ernüchternd.
An die Akademie der Bildenden Künste aufgenommen zu werden, bedeutete für mich, als künstlerisch tätige Person anerkannt und legitimiert zu werden. In der Art des Unterrichtens fand ich manchmal Anzeichen dafür, dass das keine einseitige Fantasie war. Die Akademie und ihre Lehrenden als Legitimation für das künstler-ische Tun – das schien die Akademie selbstbewusst auszustrahlen. Alleine die schweren Eingangstüren des Hauptgebäudes, gegen die man sich mit dem ganzen Körper lehnen musste, vermittelten mir den Eindruck eines schwer zugänglichen, elitären Raums. Wer es hineingeschafft hatte, so meine Annahme damals, konnte sich als Künstler*in behaupten.
Umso größer war meine Enttäuschung über die Berufung eines Professors, der aufgrund seines Unterrichtsstils bei Studierenden relativ unbeliebt war. Obwohl einige Studierende sich gegen ihn aussprachen, wurde die Stelle an ihn vergeben. Studentische Mitsprache schien unerwünscht. Ich erinnere mich an meine Fassungs-losigkeit, wie über unsere Köpfe hinweg entschieden wurde, und an meine Wut. Aus der Aufregung und dem Frust entstand die Idee, eine Freie Klasse zu gründen, eine eigene Plattform, deren Organisation und Inhalte wir Studierenden selbst bestimmen könnten.
Obwohl ich mit großer Ehrfurcht und dem Wunsch danach, unterrichtet und angeleitet zu werden, an der Akademie gestartet war, begeisterte mich die Idee der Freien Klasse. In einer Gruppe von etwa 10 Personen begannen wir, Gedanken zu diskutieren und ein Manifest zu schreiben.
Wir wollten Hierarchien infragestellen, alternative Formen der Lehre ausprobieren und unsere künstlerische Praxis radikal neu denken. Die Idee des Kollektiven und die Absage an die Vorstellung vom individuellen ›Künstlergenie‹, welches so viele strukturelle Ungleichheiten ausblendet, spielten dabei eine zentrale Rolle. Wir wollten Lehre und künstlerische Praxis als Aspekte eines großen Prozesses denken, der partizipativ und in sich widersprüchlich sein konnte und sollte.
Als Freie Klasse begriffen wir uns als Satellit und Parasit. Wir besetzten ungenutzte Räume an der Akademie und luden externe Lehrende und Künstler*innen für unser selbstorganisiertes Semesterprogramm ein. Unsere Zugänge zu Räumen, Materialien, Geräten und Fördergeldern teilten wir in den kommenden Semestern auch mit Personen, die die Aufnahmeprüfung an die Akademie nicht bestanden, was immer wieder zu Konflikten mit Lehrenden, Rektorat und Verwaltungsmitarbeitenden führte.
Die Zeit in der Freien Klasse war ein Höhepunkt in meiner künstler-ischen Praxis, meiner Lernbiografie und in meinem sozialen Leben. Hier kam ich das erste Mal bewusst mit Queerness in Berührung – dem spielerischen wie auch militanten Unterlaufen von Geschlechterrollen und Begehrensnormen – und erfuhr, dass auch andere sich mit den oben erwähnten Ängsten und der Unsicher-heit in akademischen Räumen herumschlugen. Als besondere Wertschätzung empfinde ich, dass die Freie Klasse nach einigen Semestern an andere künstlerische/kulturelle Institutionen eingeladen wurde, um über selbstorganisierte künstlerische Lehre zu sprechen. Neben den Ausstellungsprojekten, die wir gemeinsam in ähnlichen Konstellationen organisierten oder an ihnen teilnahmen, stärkte mich dieser Austausch und die gegenseitige Inspiration mit Projekten und Ideen rund um selbstorganisierte Bildung.
Ich empfinde große Dankbarkeit, wenn ich an diese vier Jahre zurückdenke. Die durchlebten Verletzungen und Konflikte, die sich unter anderem aufgrund des hohen Drucks und der unterschiedlichen Erwartungen auftaten, ändern daran nichts. Die Freie Klasse mit zu gründen und mein Studium so selbstbestimmt zu gestalten, mich zu politisieren und lernen zu können, hat mich enorm bereichert und gleichzeitig tief verunsichert.
Meine Vorstellungen von Kunstuni/Kunsthochschule als Ort der Legitimation von künstlerischer Praxis, von Integrität und Autorität, wurden komplett erschüttert. Stattdessen habe ich die Akademie als umkämpften Ort erlebt, an dem um Macht gerungen wird, Normen reproduziert und kritische Stimmen ausgeblendet werden und der pädagogische Auftrag oftmals in den Hintergrund tritt.
Je mehr ich mich im Rahmen der Freien Klasse mit Hierarchien und Normen in Bezug auf künstlerische Praxis, künstlerische Lehre und Kollektivität auseinandersetzte, desto mehr fielen sie mir an anderen Stellen an der Akademie auf. Gleichzeitig bauten wir in unserer Gruppe neue Hierarchien auf und reproduzierten Normen und Machtverhältnisse.
Nach und nach ballten sich Dynamiken, die ich heute mit Begriffen wie Intersektionalität, Diskriminierung, Privilegierung, Mehrfachzugehörigkeit beschreiben würde. Ich erinnere mich daran, dass mir mein eigenes rassistisches Verhalten langsam bewusst wurde. Ich erinnere mich auch daran, dass mir meine Verletzungen durch Sexismus und Queerfeindlichkeit nach und nach begreiflich wurden. Ich erinnere Wut, Scham, Ratlosigkeit, Überforderung, Arroganz, Trauer.
Warum haben wir es nicht besser geschafft, uns umeinander zu kümmern? Wie kam es, dass wir das Wertvolle, das wir zusammen gebaut hatten, nicht vorsichtiger behandeln konnten? Wann hatten wir aufgehört, einander mit Offenheit zu begegnen? Oder hat es diese Offenheit nie gegeben, sondern nur die Sehnsucht nach Kollektivität, die herausfordert und schützt, stärkt und antreibt?
Mit diesen Gefühlen, Gedanken und Fragen bewarb ich mich nach dem Umzug nach Berlin für die KontextSchule 2016–2018.
In den ersten Sitzungen der KontextSchule wurde mir bewusst, dass die erlebten Dynamiken, Machtverhältnisse und Konflikte in der Freien Klasse nichts Einzigartiges waren. Durch den Übertrag und das erneute Aufkommen von bestimmten Situationen wurde es für mich möglich, meine Fragen allgemeiner zu stellen und neue Ebenen des Verstehens aufzumachen:
Was habe ich über das Lernen gelernt? Müssen Gefühle und körper-liche Empfindungen an der Tür abgegeben werden, wenn wir uns in akademischen Räumen treffen, um miteinander zu denken, zu sprechen und zu lernen? Was braucht es, um Lernprozesse zu ermöglichen? Was erwarten wir voneinander und von uns selbst, wenn wir uns mit Normen in Bezug auf Lernen, auf künstlerische Praxis und Kollektivität beschäftigen? Wie können wir unseren unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen Rechnung tragen?
2016
Der Beginn meines Jahrgangs in der KontextSchule war geprägt von der Beschäftigung mit Rassismus und weiß sein. Relativ zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit – zwei oder drei Sitzungen nach dem Kick-Off – wurden wir eingeladen, uns in zwei Gruppen zu teilen. In der einen Gruppe sollte es darum gehen, sich vor dem Hintergrund von Rassismuserfahrungen zu stärken. In der anderen Gruppe lag der Schwerpunkt auf der kritischen Beschäftigung mit dem eigenen weiß sein. Ich erinnere mich, dass der Prozess der Zuordnung spannungsgeladen war; so äußerte eine weiße Teilnehmende, dass sie lieber an der Empowerment-Gruppe teilnehmen wollte. Für einige weiße Personen war dies das erste Mal, dass sie sich mit ihren weißen Privilegien auseinandersetzten.
Die Trainerin Julia Lemmle, selbst weiß, die mit uns zu kritischem weiß sein arbeitete, gab uns Texte zu lesen und ermutigte uns, trotz Unwohlsein im Lernprozess zu bleiben. Sie teilte mit uns das Modell der verschiedenen Stufen der Auseinandersetzung mit Rassismus. Das Modell unterscheidet in eine erste Phase der Abwehr, darauf folgen Schuld und Scham. Schließlich kommen Phasen von Anerkennung und Reparation (Lemmle 2015: 57ff.). Ich empfand große Erleichterung und Dankbarkeit über dieses für mich neue Wissen und den Austausch. Gleichzeitig wurde mir mehr und mehr bewusst, dass ich mich selbst als die ›gute weiße Person‹ verstand und etwas abwertend auf die anderen weißen Teilnehmer*innen blickte. Ich dachte, ich sei reflektierter und versuchte auch, zu der Auseinandersetzung Distanz zu halten.
Die Atmosphäre in den Kleingruppen erinnere ich als vorsichtig und verunsichert. Wertvoll war für mich ein Gespräch mit einer anderen Teilnehmenden, die mir sagte: »Dein Antirassismus ist eher theoretisch«. Nach diesem Gespräch begann ich, mehr auf meine Gefühle und körperlichen Empfindungen zu achten, wenn es um Rassismus und weiß sein ging. Obwohl ich viele Debatten und Theorien rund um Rassismus kannte, fiel mir erst langsam auf, dass mein Körper sehr wohl zwischen Abwehr, Schuld und Scham feststeckte und sich rassistisches Verhalten sehr deutlich in meinen Körper – meine Blicke, Gesten, Körperhaltungen – eingeschrieben hatte. Somit stellte die KontextSchule für mich zu Beginn vor allem einen Raum dar, in dem die unterschiedlichen Erfahrungen in Bezug auf Rassismus benannt und anerkannt wurden. Die Begleitung durch Julia Lemmle empfand ich als sehr liebevoll und ermöglichte mir, die Auseinandersetzung mit meinem weiß sein auch als emotionalen Prozess zu verstehen. Gleichzeitig rief Julia Lemmle uns zur Verantwortung und machte immer wieder deutlich, dass etwa rassistische Wörter oder Bilder und tödliche Angriffe auf Schwarze Personen und Personen of Colour Erscheinungen desselben rassistischen Kontinuums sind.
Wie trafen wir wieder zusammen? Ich erinnere, dass in unserer Gruppe der weißen Teilnehmenden besprochen wurde, wie es uns mit dem Moment des Zusammentreffens gehen würde. Einige von uns hatten Sorgen und Fantasien, dass die nun empowerten Schwarzen Personen und Personen of Colour hart über uns weiße Personen urteilen würden. Andere von uns entdeckten gerade erst, dass Rassismus existiert, und dass wir als weiße Personen complicit im rassistischen System sind. Und dann gab es noch den Wunsch, rassistische Missstände sofort aufzulösen – mit all diesen Gefühlen und Impulsen gingen wir als Teil der Gruppe in das nächste gemeinsame Treffen.
Die gemeinsame Arbeit während der nächsten Treffen erlebte ich als konfliktbeladen. Einige von uns weißen Teilnehmenden pro-jizierten ihr Unwohlsein direkt auf die BI_PoC-Teilnehmenden und warfen ihnen Spaltung der Gruppe vor. Ich empfand den gemeinsamen Lernraum als übervoll von Emotionen; es kam zu lauten Vorwürfen und leisen, nicht weniger schmerzhaften Bemerkungen.
Für Aïcha Diallo und Danja Erni schienen die Dynamiken in der Gruppe ebenfalls immer wieder aus dem Ruder zu laufen. Als eine Schwarze und eine weiße verantwortliche Person waren ihre Reaktionen und Umgangsweisen unterschiedlich. Auch erschien mir, dass die Rolle der beiden (Moderation? Leitung? Koordinator*innen?) vor allem zu Beginn unseres Jahrgangs nicht ganz klar waren. Auf Richtlinien im Umgang miteinander oder etwa in der Benennung von Diskriminierung hatten wir uns nicht geeinigt; hier tat sich neben dem Raum für Lernen und Diskutieren auch eine Grenze auf. Mir fehlte die Anerkennung, wie emotional die Auseinandersetzung um Machtverhältnisse ablief, und das gemeinsame Nachdenken darüber, was das für uns als Gruppe bedeutete. Ich hatte den Eindruck, dass der geteilte Raum umso mehr als akademischer Ort definiert wurde, je emotional aufgeheizter unsere Treffen verliefen.
2017
Im Lauf der ersten Treffen begann ich eine freundschaftliche Beziehung mit einer anderen Teilnehmenden, Fleur Sandjon, die ebenfalls schreibt und sich wie ich für Science Fiction als Experimentierfeld für soziale Utopien interessierte.
Für die Vorstellung ihrer künstlerisch-edukativen Praxis performte sie einige Gedichte. Darin thematisierte sie unter anderem ihre eigenen Rassismuserfahrungen als Schwarze Deutsche. Ich erinnere mich an ein Schweigen direkt nach ihrer Performance, wie ich es vorher noch nie so bewusst wahrgenommen hatte. Es war ein Schweigen voller Unwillen, ja Feindseligkeit. Es kam von uns, den weißen Teilnehmenden.
Im Lauf der beiden Jahre, aber auch darüber hinaus, war die freundschaftlich-kollegiale Beziehung zu Fleur ein bereicherndes und stärkendes Moment. Indem Fleur mich als Schreibkolleg*in wahrnahm, begann ich auch selbst diese künstlerische Praxis wieder ernster zu nehmen und lernte durch sie die komplexen Verknüpfungen von künstlerischer Praxis, Empowerment und re-claiming von Themen und Ausdrucksweisen etwas besser zu begreifen und für mich zu gestalten. Gleichzeitig war es vielleicht etwas anstrengend, in diesen Monaten mit mir befreundet zu sein, da ich ein starkes Bedürfnis hatte, über Rassismus und weiß sein zu reden.
Einige Personen, die den Jahrgang mit uns gestartet hatten, beendeten die Weiterbildung frühzeitig. Auch das führte innerhalb der verbleibenden Gruppe zu Spannungen und Konflikten. Ich erinnere mich an die Äußerung, dass weiße Personen in der Gruppe nun Angst haben müssten, etwas zu sagen, und das Ausblenden der rassistischen Machtverhältnisse – auch innerhalb der KontextSchule. Dennoch erschien es möglich, durch Beharrlichkeit und Intervenieren vor allem der rassismuserfahrenen Teilnehmenden die Diskussionen und Auseinandersetzungen immer wieder zurück auf die fachliche – künstlerisch-edukative – Ebene zu bringen. Was bedeutet es, als weiße Lehrkraft Unterrichtsmaterial auszuwählen, das rassistische Inhalte zum Thema hat? Welche beruflichen und bildungsbiografischen Selbstverständnisse hindern uns als Kunstschaffende, Kunstvermittelnde und Pädagog*innen daran, miteinander in Austausch zu gehen, und welche Mechanismen führen eher dazu, dass wir einander entlang der Berufsgrenzen als Gegner*innen betrachten? Und wie können wir diese Mechanismen ins Bewusstsein heben und unsere Beziehungen zueinander verändern?
Aus den Treffen 2017 erinnere ich vor allem die Präsentationen der Teilnehmenden über ihre eigene Praxis, sei sie pädagogisch, künstlerisch, aktivistisch, oder in einer Überschneidung der einzelnen Bereiche. Ich erinnere mich daran, mit anderen Teilnehmenden eher unerwartete Gemeinsamkeiten, zum Beispiel in der Begeisterung für eine bestimmte Künstlerin, zu finden. Ich erinnere mich aber auch an schwierige und verletzende Situationen, wenn in den Präsentationen Diskriminierung reproduziert wurde. Zugleich lernten wir voneinander und von Danja und Aïcha eine Vielzahl an Methoden kennen, die ich zwischen künstlerischer Praxis, ästhetischer Forschung, Körperarbeit und Spiel verorten würde. Ein shout-out möchte ich an dieser Stelle Shanti Suki Osman geben, die mit uns eine Methode durchführte, die ich unter dem Namen Singender klingender Stern kenne. Wir legten uns – ich glaube, am Ende eines langen und spannungsreichen Weiterbildungstages – auf dem Boden auf den Rücken und erzeugten gemeinsam mit unseren Stimmen einen Ton. Der Ton sollte solange wie möglich gehalten werden, ohne dass wir einander übertönten. Die Methode erfüllte mich mit Freude und einem Gefühl von Harmonie und Wirksamkeit.
Parallel zu den Präsentationen der Teilnehmenden und dem Bearbeiten verschiedener Themenschwerpunkte besuchten wir unterschiedliche Orte von künstlerisch-edukativem Arbeiten, wie etwa das Theater X in Berlin-Wedding. Bei dem Besuch durften wir eine Impro von jungen Schauspieler*innen erleben, und selbst einige Methoden der Theaterpädagogik ausprobieren.
Bei einer der Methoden ging es um Gruppendynamik, Vereinzelung und Diskriminierung. Ich erinnere vier auf dem Boden eingezeichnete Felder, über die wir in verschiedenen Konstellationen laufen sollten. Ich hatte einige Wochen zuvor unter großer Freude und vielen Sorgen meinen Namen und mein Pronomen geändert. In Danja fand ich eine empathische Gesprächspartnerin für diesen Prozess. In der Session im Theater X sprach der Leiter des Theaters zu uns, über uns und auch über mich und benutzte dabei ein falsches Pronomen. Ich war nicht in der Lage, es richtig zu stellen, sondern erstarrte, es war mir peinlich vor der Gruppe und machte mir deutlich, wie ich nach wie vor von anderen unstimmig wahrgenommen wurde. Momente wie diese, die für mich oder für andere Personen unangenehm oder verletzend waren, gab es sicherlich viele. In der Fülle der Themen und der Dringlichkeit der Anliegen fehlte aber oft die Zeit, um miteinander in Check-In oder Check-Out zu gehen, und so hatte ich den Eindruck, dass wir die offenen oder schwelenden Konflikte monatelang, von Treffen zu Treffen, mitschleppten. Meine Kontakte mit anderen Teil-nehmenden außerhalb der Treffen waren daher sehr wichtig, um manches zu besprechen und zu bearbeiten. Parallel begann ich, mich mit körperlichen Aspekten des Erlebens von Stress und Diskriminierung zu beschäftigen, und lernte langsam, auch auf dieser Ebene aufmerksam zu sein. Wenn ich mir diese verschiedenen Ebenen, die unterschiedlichen Wissensstände und intersektionalen Zugehörigkeiten von uns Teilnehmenden und das dichte Programm vergegenwärtige, empfinde ich so etwas wie Überforderung – auch im Nachhinein noch. Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie wichtig all die Orte, Diskurse, Methoden und Arbeitsanregungen sind, und oftmals waren auch sie nur ein erstes Kennenlernen von Feldern und Fragen. Gleichzeitig fehlte mir immer wieder Raum zum Innehalten, zum Zurückkehren in den Körper nach hitzigen Diskussionen oder angespanntem Schweigen.
2018
Die letzten Monate der KontextSchule in 2017 und zu Beginn von 2018 waren geprägt von der Planung der Abschlussveranstaltung und der Ausgestaltung der Praxisprojekte.
Ich stieß zu einem Team aus zwei Künstlerinnen und einer Lehrerin, die sich mit dem Thema Gender beschäftigen wollten. Dabei erinnere ich mich an unseren Vorsatz, wertschätzend und offen miteinander umzugehen, doch immer wieder rutschten wir in scharfe Diskussionen und ein schnelles Reagieren, Verbessern oder subtiles Abwerten der Gedanken der Anderen. Der große Wunsch, an der ausgewählten Schule mehr Bewusstsein für das Thema Geschlechterverhältnisse zu schaffen, beruhte in meiner Erinnerung auf der Annahme, vor allem die Schüler*innen sollten lernen, reflektieren, ihr Verhalten ändern. Eine Selbstreflexion, was wir als Erwachsene, als Lehrkräfte mitbringen und verstärken, hatten wir wenig. Interessant finde ich aus jetziger Sicht, dass wir Ungleichheit und Diskriminierung entlang von Geschlecht eher im Außen festmachten, an ›den Anderen‹ – den Schüler*innen, dem Direktorat, den Medien.
In einem mehrtägigen Projekt an einer Montessori-Schule bei Berlin arbeiteten wir mit den 13- bis 15-jährigen Schüler*innen vor allem mit dem Ansatz der ästhetischen Forschung. Bei diesem Ansatz geht es, kurz gesagt, um das Bearbeiten von Fragen ausgehend von Alltagsgegenständen, einer assoziativen, poetischen Haltung, einer nicht-linearen Neugier.
Wir versuchten, einen geschlechtersensiblen Blick auf Gegenstände, Umgebungen, Gruppendynamik und Verhaltensweisen anzubieten. In der dichten und manchmal stressigen Atmosphäre kam es auch innerhalb unseres Projektteams immer wieder zu Spannungen. Ich erinnere mich etwa an die Irritation der Kollegin, die an der Schule arbeitete, über den Unwillen von uns anderen dreien, früh aufzustehen, da wir normalerweise nicht nach dem Rhythmus eines Schultages arbeiteten. Gleichzeitig empfand ich Unbehagen dabei, die Kollegin in Interaktion mit den Kindern zu sehen, sie zur Ruhe ermahnend oder zum Arbeiten anhaltend. Neben der gegenseitigen Irritation über unseren beruflichen Habitus – die Grenze zwischen Künstler*in und Lehrperson war doch immer wieder schnell eingezogen – gab es auch Reibung entlang unserer Positionierungen zum Thema Geschlechterverhältnisse, Vielfalt und Begehren. Zwei von uns vieren erleben Queerfeindlichkeit – und auch das unterschiedlich – und ich hätte mir etwas mehr Bewusstsein dafür auch innerhalb des Teams gewünscht.
Am Ende der Projekttage war ich dennoch sehr berührt von der Offenheit und dem Interesse der Schüler*innen, die sich auf die angebotenen Übungen einließen und sich darin zum Teil sehr verletzlich und subversiv zeigten. Unter anderem entstand in den Tagen ein kurzes animiertes Video, das einen »Mensch X« zeigt, welcher mit Superman-Umhang über die Dächer der Stadt fliegt. Eine Welt ohne (binäre) Geschlechtereinteilung erschien in diesem Video wie eine Befreiung, die Superkräfte freisetzt.
Während der Präsentation der Projektvorhaben im Sommer 2018 fiel es uns nicht leicht, noch einmal als Team zusammenzukommen und die Eindrücke aus dem Projekt zu vermitteln – auch, weil wir wohl sehr unterschiedliche Eindrücke mitgenommen hatten. Ich erinnere mich, dass es Kritik einer Person gab, wir hätten im Projekt binäre Geschlechterzuschreibungen laufend aufgenommen und damit eher verstärkt als infrage gestellt. Die Kollegin aus dem Schulkontext war davon getroffen und mochte daraufhin nicht mehr präsentieren, während ich mich in der Kritik verstanden und gesehen fühlte.
Auch hier hatte ich den Eindruck, dass wir nicht genügend Zeit hatten, uns die Zeit aber auch nicht selbstorganisiert nahmen, um die Zusammenarbeit und die vergangenen zwei Jahre zu reflektieren. Bei einem Abschlusstreffen in einem Restaurant nach den Präsentationen erinnere ich die Stimmung so angespannt wie lange nicht. Wir setzten uns nach dem Essen in die Hasenheide in einer großen Runde auf die Wiese und redeten. Es stellte sich heraus, dass manch eine Person in Gefühlen von vor zwei Jahren hing und wir konflikthafte Momente bis zum Abschlusstreffen mitgenommen hatten. Ich empfand dieses Reden zugleich als unangenehm und erleichternd, weil diese emotionalen und gruppendynamischen Momente der Kontext-Schule nun endlich einen Raum bekamen, oder wir uns den Raum dafür nahmen. Ich schreibe ›wir‹, doch es erscheint mir unpassend, wurden bei diesem letzten Treffen in der großen Runde noch einmal die Bruchlinien, Missverständnisse und Machtdynamiken so deutlich. Gleichzeitig erscheint es mir als Gewinn, dass viele von uns nach zwei Jahren konfliktreicher Zusammenarbeit bereit waren, miteinander zu sprechen, einander zuzuhören.
Mit einigen Menschen, die ich in der KontextSchule kennengelernt habe, verbindet mich nach wie vor eine freundschaftliche oder kollegiale Beziehung. Die Fragen, die mich zur KontextSchule gebracht haben, beschäftigen mich nach wie vor, doch sie haben sich erneut gewandelt. Zusammen mit anderen Mitgliedern des Bildungskollektivs life’s a beach beschäftigte ich mich über mehrere Jahre mit Fragen zu gemeinsamem Lernen, Kommunikation, Stress und Gruppendynamik. Wir gaben Workshops, schrieben Texte und diskutierten. Auch in diesem Kollektiv gab es Konflikte, die, wie ich langsam annehmen kann, Teil von Kommunikation und Zusammenarbeit sind.
Weiterhin beschäftigt mich das Thema Trauma, und wie sich Trauma-tisierung auf zwischenmenschliche Interaktion und Lernen auswirkt. Je mehr ich mich mit mit den Bedingungen von Lernen ganz allgemein befasse, aber auch institutionelle Lernkontexte ansehe, desto fragiler und zugleich kostbarer erscheinen mir die Momente, in denen das Loslassen des bereits Bekannten und die Neugierde auf eine neue Perspektive möglich sind.
Die beiden Jahre des gemeinsamen Lernens, Streitens, Reflektierens im Rahmen der KontextSchule stellen – ebenso wie die Freie Klasse – eine wertvolle Sammlung von Erfahrungen dar. Neben einer Vertiefung und manchmal völlig unerwarteten Erweiterung meines Nachdenkens über Diskriminierung und Privilegierung nehme ich eine größere Akzeptanz mit, was Konflikte, Spannungen und das betrifft, was ich als unangenehme Gefühle zu klassifizieren gelernt habe. Was braucht es, um gemeinsame Lernprozesse zu Diskriminierung zu gestalten? Wohlwollen, Demut, Humor, Snacks, Ehrlichkeit, Pausen, Grenzen, Verbindungen, Raum.
In ihrem Workshop gab Julia Lemmle als Quelle für das Modell Paul Gilroy und Grada Kilomba an. In ihrem Text I am a white academic feminist artist. I’ve got no reason to cry beschreibt Lemmle die »fünf Phasen in der selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen weiß sein« (Lemmle 2015: 57). Für die anti-rassistische Auseinandersetzung weißer Menschen schlägt sie ein »Modell der Transformation [mit] fünf Handlungsschritte[n]« vor (ebd.: 59).
Vgl. Vollrath in diesem Band, Seite 325ff.
Vgl. Fragner und Sokolnykova in diesem Band, Seite 191ff.
Vgl. N.N.: Mensch X, 2017 (siehe QR-Code).
Lemmle, Julia (2015): I am a white academic feminist artist. I’ve got no reason to cry. In: Graham, Stacie CC/Koch, Katharina/Kohl, Marie-Anne (Hg.): Prekäre Kunst. Berlin. 55-59. URL: https://www.galeriefutura.de/content/wp-content/
uploads/2015/09/preka%CC%88re-Kunst-Katalog_spread.pdf [07.11.2022].