Aliza Yanes Viacava und Santiago Calderón García
Der Beitrag Sicht der Dinge schildert den Ablauf, die Beobachtungen und Reflexionen sowie die Ergebnisse eines Projektes mit Schüler*innen des Kunst-Leistungskurses der Jahrgangstufe 12 der Fritz-Karsen-Schule. Ziel war die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte Europas, um ihre heutigen Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung von Alltagsdingen zu reflektieren und aus diesen Überlegungen eine Reihe von Bild-Interventionen bzw. Animationen in der Stop-Motion-Technik zu entwickeln.
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Wie können wir im schulischen Kunstunterricht eurozentristische Sichtweisen auf Kunst thematisieren und hinterfragen? Wie lässt sich der Diskurs über Kunst in Europa kontextualisieren, situieren und in Beziehung zum Kolonialismus setzen? Wie können wir in unserer Rolle als Pädadog*innen und Vermittler*innen eine (selbst)reflexive Haltung gegenüber unserem Platz in den eurozentrischen Strukturen einnehmen? Solche und ähnliche Fragen stellten wir uns bei der Konzeption und Durchführung des Projekts Sicht der Dinge, einem kunst- und medienpädagogischen Projekt zum Thema Auswirkungen des Kolonialismus auf die Gegenwart, das in Kooperation mit der Fritz-Karsen-Schule (FKS) durchgeführt wurde.
Zwischen August und Dezember 2021 erarbeiteten wir zusammen mit den Schüler*innen des Kunst-Leistungskurses der Jahrgangsstufe 12 der FKS Stop-Motion-Videos. Ziel dabei war, die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte Europas und ihre heutigen Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung von Alltagsdingen zu reflektieren. Wir wählten die Stop-Motion-Technik, weil sie sich dazu eignet, in Standbilder durch Entfernen, Einfügen oder Verändern von Bildelementen einzugreifen. Im Kontext des Workshops bestand eine der Hauptaufgaben eben darin, in die vom Kolonialismus geprägten Bilder zu intervenieren, um ihre Bedeutung zu verändern.
Um uns dem Thema gemeinsam mit den Schüler*innen anzu-nähern und Videoanimationen daraus zu erstellen, standen wir, das Projektteam, in einem laufenden Austausch von Ideen. Während des Projektzeitraumes begleiteten Santiago Calderón García und Aliza Yanes Viacava Veronika Albrandts Kunstunterricht ein- bis zweimal pro Woche.
Veronika, als Lehrerin, aber auch als ausgebildete Künstlerin, sah die Notwendigkeit, sich mit dem Kolonialismus und seinen Folgen in der Gegenwart im Rahmen des Kunstunterrichts auseinanderzusetzen. Das liegt daran, dass die kolonialen Kontinuitäten selten in der Schule und noch seltener im Kunstunterricht aufgearbeitet werden. Die Tatsache, dass wir, Aliza und Santiago, den Kunstunterricht ein ganzes Semester lang begleiten konnten, war eine Art Intervention in den Kunstunterricht selbst. Die Zusammenarbeit im Rahmen des Unterrichts erlaubte es uns, die Ziele des Projektes mit den Inhalten des Leistungskurses zu verbinden. Was wird als Kunst angesehen und was nicht? Welche visuellen Kriterien ergeben sich daraus? Was wird als Kunst, Handwerk oder Popkultur gelesen? Wie hat die westliche Kolonialgeschichte unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Kunst beeinflusst? Diese Fragen dienten als Ausgangspunkt, um uns an die Hierarchien innerhalb der westlichen Kunstgeschichte anzunähern. Später wurden konkrete Beispiele dafür angeführt, wie diese eurozentristischen Sichtweisen auch heute noch präsent sind, und zwar nicht nur in der Kunstbetrachtung, sondern auch im Alltagsleben. Dadurch wollten wir eine Fortführung der Auseinandersetzung mit dem Thema Auswirkungen des Kolonialismus auch über das Projekt hinaus ermöglichen.
Zu diesem Zweck haben wir drei Methoden formuliert und umgesetzt: ›Gegensätzliche Dualismen‹, ›Bildinterventionen (animieren)‹ und ›Rollentausch‹. Bei der Methode ›Gegensätzliche Dualismen‹ stand im Mittelpunkt die Kritik an den binären Formen der Repräsentation als eines der Merkmale des Eurozentrismus (Quijano/Ennis 2000: 533). Unter ›gegensätzlichen Dualismen‹ verstehen wir entgegengesetzte Begriffe, die sich im europäischen Diskurs seit der »Entdeckung Amerikas« entwickelten und bis heute fortsetzen. Bei ›Bildinterventionen (animieren)‹ war animieren) das Ziel, in historische und kolonial geprägte Bilder durch die Techniken der Collage und Stop-Motion und ihre erzählerischen Möglichkeiten kritisch zu intervenieren; bei der dritten Methode ›Rollentausch‹ ging es darum, mittels Fotografie und Bildbearbeitung Hierarchien umzukehren, zu verändern, zu hinterfragen und dann im Hinblick auf Intersektionalität zu reflektieren. ›Gegensätzliche Dualismen‹ und ›Bildinterventionen (animiert)‹ bildeten den Ausgangspunkt für die anschließende Realisierung von Videoprojekten. Dabei handelte es sich um Erklärvideos, in denen die Schüler*innen ihre eigenen Interessenschwerpunkte wählten und sich mit kolonialen Kontinuitäten auseinandergesetzt haben.
Gegensätzliche Dualismen
Die binäre Konstruktion der Geschichte ist ein inhärentes Merkmal des europäischen Denkens. Dies laut verschiedener Autor*innen, unter anderem von Stuart Hall, und in Lateinamerika von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, mit seiner Theorie der ›Kolonialität der Macht‹. Damit bezieht er sich auf ein für das modern-kapitalistische System charakteristisches Muster globaler Herrschaft, das seinen Ursprung im europäischen Kolonialismus im heutigen Amerika in der Mitte des 15. Jahrhunderts hat (Quijano/Ennis 2000: 534). Er verweist darauf, dass die weiße europäische Identität auf der Grundlage des radikalen Unterschieds zwischen Europäer*innen und Indigenen konstruiert wurde. So wurden die, wie Quijano es nennt, intersubjektiven Beziehungen zwischen Europa und dem »Rest der Welt« in gegensätzlichen Kategorien konzipiert, wie z. B.: zivilisiert/wild; modern/primitiv; wissenschaftlich/magisch-mythisch; rational/irrational usw. (vgl. ebd.: 540-542). Diese dualistische Sichtweise des Wissens zieht sich durch alle Aspekte des Lebens, einschließlich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Vorstellungen, die wir davon haben, was Kunst ist und was nicht. Aus diesem Grund war es für uns sehr wichtig, diesen Aspekt zu zeigen und zu entwickeln.
Diese erste Übung bestand darin, darüber nachzudenken, inwieweit die Assoziationen, die wir machen, von eurozentrischen Sichtweisen geprägt sind. Es ging darum zu verstehen, dass koloniale Denkmuster und die daraus entstehenden gewaltvollen Machtbeziehungen in der Sprache wahrgenommen werden können. Die von uns verwendeten Materialien waren ein Kartensatz mit Begriffen und die Videoreihe Das (de)koloniale Glossar. Diese vierteilige Videoreihe basiert auf der vorhin genannten Theorie der ›Kolonialität der Macht‹.
Im ersten Teil der Übung wurden Arbeitsgruppen gebildet und jede Gruppe erhielt einen Kartensatz, auf dem Begriffe standen. Die Karten waren farblich gekennzeichnet, sodass die von uns vorgeschlagenen Begriffspaare alle in Grün waren. Die Schüler*innen mussten Paare nach ihren eigenen Kriterien finden und ordnen. Die Tafel wurde dann in zwei Hälften geteilt: eine für ›Europa‹, in Rot, und die andere für ›Außereuropa‹, in Blau. Die Schüler*innen bekamen rote und blaue Karten, auf die sie schreiben konnten, was sie mit Europa bzw. Außereuropa verbinden. Begriffe wie »Menschenrechte«, »Medizin«, »Industrie«, »Stabilität«… wurden in Europa verortet und »Warmes Wetter«, »Kriege«, »Mücken«… in Außereuropa.
Das Hauptziel dieser ersten Übung bestand nicht in erster Linie darin, gegensätzliche Dualismen aufzubrechen, sondern sie sichtbar zu machen. Binäres Denken hat einen langen und weiten Weg hinter sich, den man erst einmal erkennen muss, um ihn durchbrechen zu können. Dieser erste Teil der Übung stellte die binären Kategorisierungen und deren Reproduktion infrage, ist aber innerhalb der Logik der Binaritäten geblieben. Damit sollte gezeigt werden, dass diese binäre Form in sich widersprüchlich und willkürlich ist. Das wiederum birgt die Gefahr, dass bei der Assoziierung mit dem Dualismus ›Europa – Außereuropa‹ Assoziationen verfestigt (oder geschaffen) werden könnten, die eine Hierarchie zwischen diesen beiden Begriffen herstellen.
Der nächste Schritt der Übung bestand darin, uns das erste Video des (de)kolonialen Glossars ›Europa – Außereuropa‹ anzusehen. Wie der Titel andeutet, verdeutlicht das Video die Begriffe ›Europa‹ und ›Außereuropa‹ anhand der Eroberung ›Amerikas‹. Auch Begriffe wie ›Eurozentrismus‹ und ›Kolonialismus‹ werden im ersten Teil des Video-Glossars erklärt. (Gegen-)Begriffe sind zum Beispiel ›Abya Yala‹, der ursprüngliche Guna-Name für den Kontinent Amerika, und ›Pachakuti‹, der Quechua-Begriff für die Umwandlung von Zeit und Raum, der sich auf die großen Veränderungen bezieht, die die spanische Invasion in der Andenwelt mit sich brachte.
Nachdem die Eindrücke des Videos in der Klasse besprochen wurden, erklärten alle Schüler*innen, warum sie ihre Wörter oder Assoziationen auf die beiden Hälften der Tafel gesetzt hatten. Die Aufgabe bestand dann in der Überlegung, ob eines dieser Wörter auch auf der anderen Hälfte stehen könnte und warum. Unter Beteiligung der Schüler*innen und Einbeziehung ihrer Argumente konnten wir gemeinsam erkennen, dass die Kategorien ›Europa‹ und ›Außer-Europa‹ sowie die Wörter, Elemente und Assoziationen, die üblicherweise jeder Kategorie zugeordnet werden, relativ sind und Gegenstand von Kritik und Diskussion sein können. Ziel der Übung war es, sich der eigenen (Vor-)Urteile bewusst zu werden und sie gleichzeitig zu dekonstruieren und Gegenbeispiele zu finden. Am Ende entstand ein Bild, das nicht mehr in zwei Farben unterteilt war: Die Wörter auf roten und blauen Zetteln befanden sich auf beiden Seiten der Tafel.
Bildinterventionen (animieren)
In diesem Teil des Projekts begannen die Schüler*innen, sich mit den Interventionen in die in der Kolonialzeit entstandenen Bilder und mit der Stop-Motion-Animationstechnik auseinanderzu-setzen und damit zu experimentieren. Das Hauptziel dieser Übungen bestand darin, herauszufinden, wie die Bedeutung von Bildern und Figuren aus der Kolonialzeit durch Interventionen (inhaltlich, aber auch formal) verändert werden kann. Die Bilder, die für diesen Teil des Prozesses verwendet wurden, sind die aus dem ersten Teil der Videoreihe des dekolonialen Glossars ›Europa‹ und ›Außer-Europa‹. Die ausgewählten Bilder dienten als Ausgangspunkt für die Analyse der visuellen Darstellungen ›der Anderen‹, die von einer binären kolonialen Betrachtungsweise geprägt sind.
In einem ersten Schritt haben wir die Schüler*innen gebeten, eine Animation zu formulieren bzw. zu realisieren, die als Antwort auf die vorhandenen Bilder dienen sollte. In dieser Sitzung stellten wir fest, dass die Schüler*innen konkrete Beispiele und mögliche künstlerische Strategien brauchten, die es ihnen ermöglichten, ihre Gedanken visuell auszudrücken. In einem zweiten Schritt formulierten wir gemeinsam mit der Lehrerin Veronika Albrandt einen Plan, wie wir im Rahmen des Projekts auf dieses Bedürfnis in der Gruppe reagieren können. Künstlerische Strategien wie Neukombinieren, Übermalen, Überzeichnen, Übertreiben, Verfremden oder Die-Figuren-in-einen-neuen-Kontext-Stellen, sollten dazu dienen, die eurozentrische Sichtweise von Bildern zu dekonstruieren und ihnen eine neue Bedeutung zu geben. Das Ausprobieren stand bei diesen Übungen im Vordergrund.
In einer zweiten Sitzung der Bildintervention (Animation) arbeiteten wir mit Bildern von zwei historischen Figuren: einer Statue von Christoph Kolumbus und einem Graustufenfoto von Otto von Bismarck. Im ersten Teil bestanden die Aufgaben darin, die Wirkung der Übertreibung oder Neukombination von Augen, Mund und Ohren (Sinne schärfen), die Möglichkeiten des Ausdrucks verschiedener Gefühle (Gefühle sichtbar machen) und die Wirkung übermalter Kleidung (Kleidung und ihre Wirkung) zu untersuchen. Die Ergebnisse waren spannend: Kolumbus wurde zum Piraten, zum Hipster und seine Statue wurde ins Wasser geworfen und von Piranhas verschluckt. Bismarck wurde in bösartige Figuren der heutigen Mainstream-Kultur verwandelt. Bei dieser Annäherung an die Intervention und Animation von Bildern haben wir festgestellt, dass es notwendig ist, zu klären, wer in diesem Fall Bismarck und Kolumbus sind und inwieweit sie mit dem Kolonialismus in Verbindung stehen. Ebenso haben wir festgestellt, dass bei der Erstellung der Animation der Schwerpunkt hauptsächlich auf der Technik und nicht unbedingt auf dem Inhalt lag. Wir reagierten auf diese Situation, indem wir eine Eins-zu-eins-Betreuung durchgeführt haben, um das Reflektieren über die Bedeutung der entstandenen Bilder zu ermutigen.
Der zweite Teil umfasste die Animation der eingeblendeten Bilder und die Einbindung eines Voice-Overs. Ziel war es, die ursprüngliche, scheinbar statische und repräsentative Bedeutung zu verändern und zu untersuchen, wie das Voice-Over die Bedeutung des Bildes ergänzen, unterstreichen, konkretisieren, konterkarieren, übertreiben oder kommentieren kann. Bei der Erstellung der Videos wurde wie folgt vorgegangen: zunächst die Animation planen – was wollen die Schüler*innen mit der Intervention des Bildes vermitteln? Danach sollte der Text des Voice-Overs entsprechend der ungefähren Länge des Videos geschrieben werden. Anschließend wurde die Stimme mit dem Mobiltelefon aufgenommen und dabei auf die Stimme und den Klang der Worte und deren Wirkung geachtet. Und schließlich das Bild animiert. Zu den gestalterischen Mitteln, auf die Schüler*innen achten mussten, gehörten unter anderem Bewegung, Farbe, Komposition und Bildausschnitt.
Rollentausch-Workshop
Nach einer Analyse und dem Nachstellen von Fotografien von Yonka Shonibare aus der Serie Diary of a Victorian Dandy mit dem Fokus auf Komposition und Inszenierung (Körperhaltung, Mimik und Gestik) haben die Schüler*innen eigene Fotografien entwickelt. Die Frage ›Warum ist Repräsentation wichtig?‹ begleitete durchgehend. Dieser Workshop fand gegen Ende des Projekts statt. Ziel war es, Bilder zu schaffen, die Stereotypen durch die Inszenierung von Situationen aufbrechen. Wer wollte, konnte sich verkleiden und eine Rolle spielen. Diejenigen, die sich nicht verkleiden wollten, halfen bei der Bildkomposition. Zwei weitere Künstler*innen, Klara Mohammadi und Elkin Calderón Guevara, waren bei diesem Workshop dabei. Klara Mohammadi, Kostüm- und Setdesignerin, nahm die Impulse und Ideen der Schüler*innen auf und wählte die Kostüme aus und der visuelle Künstler Elkin Calderón begleitete die Fotosessions. Der restliche Teil des Teams hatte die Aufgabe, jede Gruppe einzeln zu begleiten. Hier war es für das fünf-köpfige Betreuer*innenteam wichtig, auf den Verlauf des Workshops zu achten und eine kritische Haltung zu den Entscheidungen über die Kostüme zu fördern, da diese Methode die Gefahr birgt, gewaltvolle Stereotypen ungewollt zu reproduzieren. Eine Sensibilisierung im Vorfeld war und ist daher immer notwendig, damit sich die Schüler*innen nicht als eine diskriminierte Gruppe verkleiden, der sie nicht angehören. Die verwendeten Materialien waren: Licht, (eine Vorauswahl von) Kostümen und ein grüner Hintergrund. Für die Bearbeitung der Bilder haben wir hauptsächlich die kostenlose Bildbearbeitungssoftware Gimp verwendet. Der Workshop fand in drei Sitzungen zu je zwei Unterrichtsstunden statt.
Es ging darum, zu spielen und mit verschiedenen Arten von Kostümen und Kompositionen zu experimentieren. Dabei stellten die Schüler*innen fest, welche Rolle sie spielen wollten. Die Haupt-frage war, wie die Wahl der Kostüme wahrgenommen werden könnte. Hierfür haben wir Arbeitsgruppen gebildet. Jede Gruppe wählte ein Thema, und auf der Grundlage der Ergebnisse des ersten Tages machten wir ein Fotoshooting mit einem grünen Hintergrund. Nachdem die Fotos gemacht wurden, wählten die Schüler*innen die Bilder aus, mit denen sie arbeiten wollten. Anschließend bearbeiteten sie den Hintergrund mit freier und Open-Source-Bildbearbeitungssoftware. Die Aufgabe bestand darin, aktiv darüber nachzudenken, wie die Rollen der gewählten und inszenierten Charaktere dekonstruiert werden können. Zum Beispiel durch die Frage, welche Machtverhältnisse in den Kompositionen zu sehen sind und/oder wie die Rollen umgedreht werden könnten. Einige der Fragen lauteten: Wer oder was wird dargestellt? Welche Hierarchien wurden verändert? Welche Wirkung haben diese Bilder? Irritieren und verwirren sie? Wer oder was wird (un)sichtbar gemacht? Was wird im Bild infrage gestellt, aber auch reproduziert? Was diese letzte Frage betrifft, so ist der ›Rollentausch‹ nicht aus der binären Logik ausgebrochen. Allerdings wurde sie als Strategie eingesetzt, um die Hierarchien in den Darstellungsformen zwischen den Gegensätzen zu hinterfragen, zu irritieren oder sichtbar zu machen. Mensch-Tier-Beziehungen, Bilder von Auto-rität und Darstellungen von Frauen* beschäftigten die Studierenden in den Fotosessions. Auffallend war, dass zwar ausdrücklich auf bestimmte Formen der Repräsentation hingewiesen wurde, während andere auf den Fotos sichtbare Aspekte unerwähnt geblieben sind. Zum Beispiel Klassenhierarchien und Klassismus.
Schlussbemerkungen
Sowohl bei der Konzeption als auch bei der Durchführung dieses Projekts wurde uns bewusst, wie komplex die Beantwortung der zu Beginn dieses Textes gestellten Fragen ist. Dabei wurde deutlich, dass die Demontage verinnerlichter kolonialistischer Denkstrukturen keine leichte Aufgabe ist und dass jede (Lehr- und Lern-)Situation einzigartig ist.
Vor diesem Hintergrund betrachten wir die hier beschriebenen Übungen nicht als abgeschlossenes Werk oder eine fertige Anleitung, der man Schritt für Schritt folgen kann. Es handelt sich vielmehr um ein kollektives Projekt, das geändert, infrage gestellt, ergänzt und weiterentwickelt werden kann und soll.
In erster Linie halten wir es für notwendig, dass die Bearbeitung von ›Kolonialismus‹ im Rahmen des Kunstunterrichts in der Schule in einer unterstützenden Arbeitssituation zusammen mit anderen Fächern, wie z. B. Geschichte, erfolgen muss. Es geht nicht nur um Zahlen, Namen und Fakten zu den Opfern, sondern auch um den (verbalen und visuellen) Diskurs, der das koloniale Handeln begründete, um zu verstehen, wie dieser bis heute anhält. Dies sollte ein Aspekt sein, an dem alle verschiedenen Akteur*innen beteiligt sind: von den Gastkünstlern*inne, Lehrer*innen bis hin zur Schulleitung. Von der Unterrichtsplanung bis hin zur Ausarbeitung interner Lehrpläne.
Die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten im Kontext der kulturellen Bildung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Es gibt keine einheitliche, reproduzierbare Vorgehensweise dafür – und es sollte auch nicht die Erwartung an eine solche geben. In diesem Fall haben wir uns dafür entschieden, vom binären Denken in Bezug auf den Eurozentrismus auszugehen. Dieses binäre Denken ist so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass eine Analyse notwendig ist, um diese unsichtbare Konstruktion zu erkennen, die die Welt in zwei nicht neutrale und harmlose Hälften wie ›Europa‹ und ›Außer-europa‹ teilt. Dabei hatten wir nicht genügend Zeit oder Strategien, um Beispiele für andere Denkweisen vorzuschlagen, die sich von diesen Binarismen entfernen und sie aufbrechen. Es bleibt eine offene Aufgabe, eine Methode zu finden, die es ermöglicht, Binarismen zu erkennen und dann zu überwinden. Nicht nur im Bereich der Kunst und Kultur ist es wichtig, andere Denkansätze zu finden, die nicht in Vereinfachungen und schädliche Binarismen verfallen. Zugleich ist klar, dass 530 Jahre kolonialer Diskurs nicht in einem Workshop gelöst werden kann. Wir müssen unsere Anstrengungen bündeln und konzentrieren, damit die Bildung der neuen Generationen von kritischem Wissen über Geschichte und Gegenwart geprägt ist.
Darüber hinaus bestand einer der wichtigsten Aspekte dieses Projekts darin, dass die Schüler*innen für ihre Videos selbst Themen wählen konnten, die sie im Zusammenhang mit kolonialen Kontinuitäten interessierten. So ergaben sich verschiedene Ansätze zum Thema wie: Kolonialismus in Videospielen, Rassismus im Fußball, der Widerstand der afroamerikanischen Kultur durch Hip-Hop, die Ausbeutung der Natur in Deutschland, die Umbenennung von Straßen nach Kolonisator*innen in Berlin, der koloniale Ursprung der Geschlechterklassifizierung und die koloniale Beziehung Deutschlands zum Bananenhandel mit Kamerun.
Wir hoffen, dass diese situierten Übungen zur Reflexion darüber beitragen können, in Kunst und kultureller Bildung kritisch mit kolonialen Kontinuitäten und Machtstrukturen gearbeitet werden kann. Für uns war es zunächst wichtig, eine kritische Selbst-reflexion über die Position durchzuführen, die jede*r der Projektakteur*innen innerhalb des kolonialen Systems einnimmt, und strategische Allianzen mit verschiedenen Kolleg*innen und Expert*innen zu bilden, um ein engagiertes, unterstützendes und (selbst)kritisches Arbeitsteam zu haben.
Das Projekt Sicht der Dinge. Dekolonialer Perspektivenwechsel in der Schule wurde in Berlin konzipiert und umgesetzt. Wir halten es für wichtig, dies zu erwähnen, da wir der Meinung sind, dass die Annäherung an das Thema Auswirkungen des Kolonialismus auch kontextabhängig ist.
Obwohl viele der im Projekt involvierten Personen mit dem, was als ›globaler Süden‹ bezeichnet wird, verbunden sind, sprechen wir aus dem ›Norden‹, von Europa aus. Ziel war es, das Thema Kolonialismus nicht auf einer abstrakten Ebene zu belassen oder auf die Vergangenheit zu beschränken. In diesem Sinne wurde sowohl bei der Planung der Sitzungen als auch bei der Begleitung der Schüler*innen eine reflektierende Haltung gegenüber der Beziehung zwischen der Lebensrealität der Schüler*innen und den kolonialen Kontinuitäten gefördert.
Beispiele siehe QR-Code auf dieser Seite.
Das Projektteam bestand aus drei Personen. Aliza Yanes Viacava und Santiago Calderón García waren die Partner*innen aus dem Bereich Kunst. Veronika Albrandt, Kunst- (und Mathematik-) Lehrerin, war Ansprechperson des Kooperationspartners aus dem Bildungsbereich. Weitere künstlerische Beiträge leisteten die Künstler*innen Elkin Calderón Guevara und Klara Mohammadi.
Sicht der Dinge wurde in Kooperation mit der Klasse 12 der Fritz-Karsen-Schule in Neukölln und der Schillerwerkstatt e.V. organisiert. Gefördert wurde das Projekt durch den Berliner Projektfonds für Kulturelle Bildung.
Mit Amerika ist der ganze Kontinent gemeint, der von den Europäern erobert wurde,
und nicht das Land USA. In der Sprache der Guna in Panamá ist ›Abya Yala‹ der Name
für den Kontinent Amerika und bedeutet ›Land in voller Reife‹. Er wird heute als Gegen-
entwurf zum kolonialen Begriff ›Amerika‹ von indigenen Gesellschaften und ihren Unterstützer*innen benutzt (Porto-Gonçalves, Carlos Walter 2006). Zu ›Abya Yala‹
vgl. Enciclopedia Latinoamericana (siehe Literatur).
In dem Text The West and the rest: discourse and power verweist Stuart Hall auf dieselbe
Strategie der Konstruktion dessen, was wir als Westen kennen, ausgehend von der ›Entdeckung‹ durch Christoph Kolumbus, und wie sich diese Konstruktion des Westens dann im Laufe der vorigen Jahrhunderte über die ganze Welt verbreitete. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Art und Weise, wie der Westen die ›Anderen‹ repräsentierte, indem er eine Unterscheidung zwischen ›uns‹, ›Europa‹, und ›den Anderen‹, ›dem Rest der Welt‹, traf (vgl. Hall 1994).
Die Theorie der Kolonialität der Macht wurde ursprünglich von Aníbal Quijano in den 1990er Jahren vorgeschlagen (Quijano/Ennis 2000: 532).
Das (de)koloniale Glossar ist ein Projekt von Aliza Yanes Viacava und Santiago Calderón García. Es wurde im Rahmen des Projektes Intervention M 21: Am Humboldtstrom – Sammeln im 19. Jahrhundert realisiert. M 21 war ein experimentelles Studienprojekt und eine Kooperation der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Universität der Künste Berlin, Institut für Kunst im Kontext, gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das Projekt widmete sich den Inhalten und der Kontextualisierung des Moduls 21 des Humboldt Forums. Das (de)koloniale Glossar ist eine Reihe von vier Video-Collage-Animationen von kolonialen Begriffen und Darstellungen, die in gegensätzlichen Dualismen organisiert sind. Ziel ist es, Eurozentrismus einer Kritik zu unterziehen und die koloniale Vorstellung von der Realität durch die Wörter sichtbar zu machen. Gegenbegriffe des indigenen amerikanischen Denkens werden als Gegensatz präsentiert.
Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache.
Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster.
Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2009): Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus. In: Mörsch, Carmen: Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Zürich/Berlin.
Hall, Stuart: »Der West und der Rest«. (1994). In: Mehlem, Ulrich et al. (Hg.):
Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg.
Quijano, Anibal/Ennis, Michael (2000): Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America. In: Nepantla: Views from South 1(3): 532–580.
Quijano, Aníbal (2019): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. Wien-Berlin.
Porto-Gonçalves, Carlos Walter (2006): Abya Yala. In: Enciclopedia Latinoamericana. URL: http://latinoamericana.wiki.br/es/entradas/a/abya-yala [08.08.2022].