Anna Kölle
Ausgehend von einer zeichnerischen Interaktion, die während ihrer Auseinandersetzung mit weißen Privilegien entstand, fragt die Autorin nach den Potenzialen zeichnerischer Zugänge bei der Beschäftigung mit weiß sein. Ein weiterer Referenzpunkt des Textes ist die Arbeit der Künstlerin und Aktivistin damali ayo, in der diese ein Modell aufgreift, das die gängigen Abwehrmechanismen weißer Personen bei der Konfrontation mit den ihnen inhärenten Rassismen identifiziert. Zum Schluss werden zwei praktische Zeichenübungen für die eigene kritische Beschäftigung mit weißen Privilegien vorgestellt.
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In diesem Text reflektiere ich eine zeichnerische Interaktion, die während meiner Beschäftigung mit weißen Privilegien im Rahmen der KontextSchule 2018–2022 entstand und frage, welche Rolle sie in meiner Auseinandersetzung mit weiß sein gespielt hat oder noch spielt. Indem ich der Beschaffenheit und Qualität eigener Lernprozesse nachgehe, versuche ich zu verstehen, wie mein Lernen mit bestimmten Erwartungen und Begehren verknüpft ist, die von der Wirklichkeit mitunter durchkreuzt werden. Wie verbinde ich mich mit inneren Bildern, Emotionen und Gedanken, wenn ich zeichne? Wie unterscheidet sich ein künstlerischer Zugang, der eher das Körperwissen anspricht, von einer rein kognitiven Beschäftigung mit Rassismus und weißen Privilegien? Und welche Rolle kann Zeichnen als einer von vielen möglichen künstlerischen Zugängen in der politischen Bildung spielen?
Das Phasenmodell
I can fix it (ayo 2011) ist das Ergebnis einer Recherche, für die die Schwarze Künstlerin damali ayo 2000 Menschen bat, jeweils fünf konkrete Dinge zu nennen, die weiße tun können, um Rassismus zu beenden. ayos Arbeit orientiert sich an einem Modell, das die Abwehrmechanismen, die weiße Menschen erfahrungsgemäß an den Tag legen, wenn sie aufgefordert werden, sich mit den ihnen inhärenten Rassismen auseinanderzusetzen, in fünf Phasen unterteilt. Das Fünf-Phasen-Modell taucht im Zusammenhang mit weißen Privilegien in unterschiedlichen Varianten auf. Nach Tupoka Ogette, Autorin und Trainerin für Rassismuskritik, lauten sie: Happy Land (Negation), Abwehr, Scham, Schuld und Anerkennung (Ogette 2018). Die Künstlerin und Theoretikerin Grada Kilomba bezieht sich auf einen Vortrag des Psychologen und Professors für Cultural Studies, Paul Gilroy, in dem dieser »five different ego defense mechanisms the white subject goes through in order to be able to ›listen‹, that is in order to become aware of its own whiteness and of itself as performer of racism: denial/guilt/shame/recognition/reparation« (Kilomba 2010: 22) beschreibt. Sie führt diese fünf Abwehrmechanismen in der Folge in ihren eigenen Worten aus (ebd.: 22f.) und ergänzt: »repression is [...] the defense by which the ego controlls and excersises censorship of what is instigated as an unpleasant truth« (ebd.: 21).
Reflexion einer Lernerfahrung
Ich erinnere, dass sich mit der Beschreibung der emotionalen Abwehr in Form dieser Phasen verschiedenen Reaktionen bei mir einstellten: Erleichterung, Wiedererkennen, Abwehr in Form des Gedankens ›das ist aber schematisch‹ und gleichzeitig die Vermutung, dass genau in diesem Reaktionsmuster ein Schlüssel zum Verständnis von strukturellem Rassismus steckt.
Es fällt mir nicht ganz leicht, genau zu rekonstruieren, wie folgende Erkenntnis plötzlich deutlich vor mit stand: »Meine Frage nach deiner Herkunft, die ich als persönliches Interesse und deshalb in irgendeiner Weise auch als intim und mir zugehörig wahrgenommen habe und zu der ich mich nicht gerne belehren lassen wollte, ist ja ein totales Klischee«.
Zum Zeitpunkt meines rekonstruierten Lernmoments war mir die Diskriminierungskategorie des Othering (Hyunsin Kim 2019; vgl. auch Erni in diesem Band, Seite 213) zwar bekannt, meine emotionale Verbindung zur aktiven Wirksamkeit meiner Rolle in unseren gesellschaftlichen Strukturen, hatte sich mit der Kenntnis dieses Begriffs jedoch noch nicht eingestellt. In einem kürzlich im Missy Magazin erschienenen Artikel mit dem Titel Du und ich und die Strukturen beschreibt die Autorin Josephine Apraku »strukturell« als das »immer und überall« der ver_andernden Erfahrung, die für sie wirksam ist, ohne die Möglichkeit, der weißen Person dieses Erleben erfahrbar zu machen (Apraku 2022).
Zurück zum Modell: in welcher Phase befinde ich mich? Scham über die späte Erkenntnis? Schuld weil ich rassistisch spreche? Oder doch wieder Abwehr: »Ja aber viele empfinden die Herkunftsfrage auch als einladenden Gesprächseinstieg und als Gelegenheit, über eigene Erfahrungen zu sprechen«.
Das innere Streitgespräch kommt in Gang, die Phasen wirbeln durcheinander, vermischen und durchkreuzen sich. Dabei hat mir das Modell in seiner klaren Unterteilung doch eine geradlinige Lernprogression in Aussicht gestellt...
Zeichnen
In diesem Moment greife ich zum Stift und fertige vier figurative Zeichnungen an. Stilisiert drücken sie die Emotionen des Phasenmodells durch ihre Gesten und Blicke aus. Mich verbinden sie mit den Emotionen Scham, Schuld, Abwehr und Anerkennung und schaffen durch ihren comichaften Stil gleichzeitig einen Abstand zu meinem inneren Streitgespräch.
Die Anweisungen in damali ayos I can fix it sind praktischer Natur. Mit den Aufrufen »take action«, »repair« oder auch dem Titel von Tupoka Ogettes kürzlich erschienenem Buch Und jetzt du bin ich aufgefordert, zu handeln.
Vielleicht ist das Zeichnen mitunter ein erster Schritt um in eine Handlung zu kommen?
Ein Vorschlag
In diesem Sinne möchte ich zwei kleine Zines, die ich in Anlehnung an das Phasenmodell und damali ayos I can fix it konzipiert habe, als ein Übungs-experiment vorschlagen.
Im ersten Zine geht es um die fünf Phasen der eigenen Abwehr.
Die Handlungsanweisung dazu lautet:
Bildet ein Tandem oder eine kleine Gruppe,
das /die zu weißen Privilegien lernen möchte.
Druckt euch jeweils eine Zinevorlage auf ein A3 Format aus, faltet es der Anleitung folgend zu einem Heft zusammen.
Wählt eines eurer weißen Privilegien aus der vorgeschlagenen Liste (Preetz/Richter 2012) und richtet eine Woche lang, täglich ein wenig Aufmerksamkeit darauf, wie sich das Privileg in eurem Alltag manifestiert.
Verwahrt eure Minizines an einem Ort, an dem ihr
sie möglichst immer dabei habt (Handtasche, Agenda, Hosentasche usw.).
Beobachtet eure Gedanken und Emotionen.
Könnt ihr mitunter eine oder mehrere der fünf Phasen identifizieren?
Notiert die Beobachtungen in euren Zines.
Lest euch am Ende der Woche eure Notizen durch und nehmt euch 20–30 min. Zeit, um eine oder mehrere Zeichnungen auf der Rückseite anzufertigen.
Verabredet ein Treffen und tauscht euch –ausgehend von euren Zeichnungen – über eure Beobachtungen und Erfahrungen aus.
Im zweiten Zine, das den Titel von damali ayos Handout I can fix it zitiert, greife ich die von ihr vorgeschlagenen Schritte auf: gestehe ein, höre zu, bilde dich weiter, erweitere deine Erfahrung, werde aktiv.
Bei diesem Zine bin ich unsicher, was die Handlungsanweisung betrifft. Ich würde es im Zusammenhang mit ayos Handout (ayo 2011) bearbeiten, kann mir jedoch auch vorstellen, dass ein Tandem oder eine Gruppe einen spezifischen Fokus festlegt (die Herkunftsfrage, white Fragility, Racial Profiling etc.) und diesen in gleicher Weise wie die Privilegien eine Woche lang mit Hilfe des Zines in den Blick nimmt, dazu zeichnet und über die Zeichnungen in einen gemeinsamen Austausch tritt.
Hilft die Bewegung eines Stifts meiner Denkbewegung? Manifestiert sich durch das Zeichnen eine körperliche Erfahrung? Kann ich zeichnend ein neues Bewegungsbild meiner Lernprozesse kreieren? Ein Bild, in dem Gleichzeitigkeit und Wiederholung mein Lernen und Verlernen als etwas imaginieren, dass sich durch die vielen Schichten der wahrgenommenen Wirklichkeit bewegt und somit nie abgeschlossen ist?
Was das Zeichnen in diesem vorgeschlagenen Experiment bedeuten oder hervorbringen kann, und wie sich die zeichnerische Interaktion auf den Austausch am Ende einer Woche auswirkt, stellt sich mir hier als Frage, da ich in dieser Form noch nicht mit den Zines experimentiert habe. Ich wäre gespannt darauf, in welchen Bildern, Symbolen und Skizzen die Gedanken und Emotionen einer solchen Übung visuell Gestalt annehmen würden. Im Schritt des Austauschs würde mich interessieren, ob und wenn ja persönliche Bilder, Bildergeschichten, visuelle Symbole und Metaphern das gemeinsame Sprechen verändern und ob sie nicht auch Anlass für eine gemeinsame ›Bildbearbeitung‹ werden und somit neue visuelle Vorstellungen mit kreieren könnten. So bleibt mir, euch dazu einladen, das Experiment mit mir oder anderen auszuprobieren, um das Potential einer zeichnerischen Interaktion in der rassismuskritischen Arbeit zu erforschen.
Vgl. Kölle in diesem Band, Seite 353.
Der Black Atlantik, Haus der Kulturen der Welt, 2004.
»Verdrängung ist (...) die Verteidigung, mit der das Ich, das, was als unangenehme Wahrheit empfunden wird, kontrolliert und zensiert« (Übers. A.K.).
Faltanleitung (siehe QR-Code, Seite 349)
Vorlage Phases When People Realize Their Privileges (siehe QR-Code, Seite 348)
Vorlage I can fix it (siehe QR-Code, Seite 350)
Apraku, Josephine (2022): Du und ich und die Strukturen. Wie wirken sich Machtverhältnisse auf unsere Liebesbeziehungen aus? URL: https://missy-magazine.de/blog/2022/09/12/du-und-ich-und-die-strukturen/ [04.10.2022].
ayo, damali (2011): I can fix it. URL: https://www.damaliayo.com/pdfs/I%20CAN%20FIX%20IT_racism.pdf [04.10.2022].
Hyunsin Kim, Olivia (2019): Othering. URL: https://diversity-arts-culture.berlin/
woerterbuch/othering [04.10.2022].
Kilomba, Grada (2010): Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. 2. Aufl. Münster. URL: https://schwarzemilch.files.wordpress.com/2012/05/kilomba-
grada_2010_plantation-memories.pdf [04.10.2022]
Ogette, Tupoka (2019): Exit Racism. 4. Aufl. Münster.
Preetz, Claude/Richter, Regina (2012): Liste weisser Privilegien. Material für rassismuskritische Workshops für weisse Personen. URL: https://blog.zhdk.ch/iaejournal/files/2012/12/AER6_privilegienliste_richter_preetz.pdf [04.10.2022].
Sauseng, Jakob/Prugger, Diana/Kübler, Lorena: Allyship in Action. Eine Ressourcensammlung für weiße Verbündete. URL: https://www.uibk.ac.at/ma-gender/downloads/allyship-in-action_online.pdf [08.12.2022].
Website von Tupoka Ogette. URL: https://www.tupoka.de.