Christine Lemke
Das Motiv des »Lesens« bildet den Ausgangspunkt meines autobiographisch reflektierenden work in progress Schreibprojekts: Was waren die klassistischen Implikationen des Lesens in meiner Herkunftsfamilie, in meiner kleinstädtisch-bäuerlichen Um--gebung? Mit welchen pädagogischen Ansätzen habe ich in der Schule, und wie zu Hause lesen gelernt? Was hat meine in den 1960ern geborene Generation gelesen und wie ist meine persönliche Lesebiografie mit einer »typischen« BRD-Lesebiografie verknüpft?
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Der folgende Text versteht sich als ein erster Auszug eines länger angelegten, noch unabgeschlossenen Schreibprojekts – aus diesem Grund auch »Arbeitstitel« und auch sein einigermaßen provisorisches und abruptes Ende. Er ist im Rahmen des von mir mit Anna Kölle im KontextSchule-Turnus 2018–2020 initiierten Lesekreises Kritische Pädagogik entstanden. Bis heute treffen wir uns einmal im Monat und lesen und diskutieren ausgewählte Texte bisher u. a. von bell hooks, Paulo Freire und Audre Lorde, wobei unser Augenmerk auf der Verknüpfung von Theorie und künstlerischer/lehrender Praxis liegt. Uns ist wichtig, Erfahrungen aus unseren jeweiligen Tätigkeitsfeldern als Künstler*innen, Kunstvermittler*innen, Lehrer*innen in Regelschulen, Dozent*innen in Integrationskursen etc. konkret miteinzubeziehen und mit dem jeweiligen Text, (Handlungs-)Perspektiven für diese zu ent-wickeln. Dazu formulieren wir reihum sogenannte ›Scores‹, also Aufgabenstellungen oder Übungen, durch die wir versuchen, die Textinhalte an unsere Reflexionen anzubinden. Ein von Danja Erni eingebrachter Score lautete beispielsweise: »Wie komme ich hierher (zum Lesekreis)?«. Es ging darum, in Anlehnung an die von der Künstlerin, Kunstvermittlerin und Forscherin Mikki Muhr entwickelte Methode des Sich Verzeichnens eine autobiografische Karte dieses Weges der eigenen Politisierung auf einem größeren Blatt Papier visuell nachzuvollziehen. Da ich zu der zeichnerischen Umsetzung keinen Zugang fand, begann ich zu schreiben und wandelte die Ausgangsfrage in die Formulierung »Wie komme ich eigentlich zum Lesen?« um. Biografisch zu schreiben, war für mich ein Selbstversuch und setzte einen Erkenntnisprozess in Gang: Viele Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen sind erst durch das Schreiben selbst sprachlich zum Vorschein gekommen. Im Sinne einer sich annähernden Erinnerungsarbeit habe ich sie immer wieder neu gelesen, neu vergegenwärtigt, umgeschrieben, Aspekte weggelassen und andere hinzugefügt. Die chronologische Anordnung des Textes ist dabei mehr ein Hilfsmittel, seine vielen Absätze spiegeln wider, dass es sich um einzelne Erinnerungs-fragmente und ihre Verdichtungen handelt, die keine Vollständigkeit beanspruchen, an die sich Zusätzliches anfügen ließe, oder die in eine andere Richtung weitergehen könnten. Viele der von mir im Laufe des Texts erwähnten Bücher und ihre Autor*innen streife ich nur kurz. Mein Anliegen für die vorliegende Publikation ist es, die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Lese-Einflüssen und Prägungen in ihrem zeitlichen Verlauf und auch in ihrer Widersprüchlichkeit zu umreißen.
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Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich konkret in der Schule Lesen gelernt habe. Ich habe kein Bild vor Augen – etwa von einer Schultafel, vor der ich, vor der wir auf kleineren Stühlen an kleineren Tischen sitzen und auf der vielleicht mit weißer Kreide angeschrieben ein Buchstabe steht – den ich mit meinem Finger in der ABC-Fibel vor mir wiederfinde, ihn mit meinen Augen als sich ineinanderfügende Linien auf einer Fläche nachvollziehe und in meinem Ohr als Laut anklingen höre oder mit der Bewegung meines Mundes in eine Form bringe und hörbar laut aus-spreche und vorlese. Woran ich mich jedoch genau erinnere, ist der Fehler-teufel, eine Zeichenfigur mit extra wuscheligen Haaren, der lustig oder passiv-aggressiv – je nach Blickwinkel und abhängig von meiner Tagesform – an den Absätzen und Rändern unserer Schulbuchseiten aufgedruckt war und mich anguckte, um mir zu verstehen zu geben, dass das Lesen und unauflöslich damit verbunden das Schreiben-Lernen sehr viel mit richtig und falsch zu tun hatte. Es stellte sich nämlich heraus, dass ich mit links schrieb, anstatt mit rechts, anstatt mit der rechten, also ›richtigen‹ Hand. Der Makel hatte einen Namen und hieß als männliche Universalie formatiert ›Linkshänder‹.
Mit meiner Linkshändigkeit direkt verknüpft ist eine Erzählung meines Großvaters. Wahrscheinlich half ich ihm wie oft nach der Schule im Garten hinter der Scheune bei Kontrollgängen durch das Erdbeerbeet oder beim Ausstreuen von Blaukorn gegen die Schnecken, als er mir beschrieb, wie ihm zur Korrektur seiner Linkshändigkeit jeden Morgen vor der Klasse von seinem Lehrer der linke Arm auf den Rücken gebunden wurde, damit der Rechte es wieder ›richten‹ würde. In diesem Moment versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass diese Welt, diese Vergangenheit, von der er sprach, dass sie tatsächlich vergangen war und ich in einer anderen, weniger bedrohlichen Gegenwart jetzt neben ihm im Garten stand und zuhörte. Mein Entsetzen angesichts der von ihm erfahrenen pädagogischen Gewalt, verband sich mit meinem Befremden über den beiläufig anekdotischen Ton seiner Schilderung. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als ob ich die Angst oder die Scham, die darin nicht zur Sprache kamen, gerade im Hören ihrer Auslassung mitbezeugte.
Anders war anscheinend das Lesen, das Lesen-Lernen zu Hause. Ich selbst kann mich nicht mehr erinnern, meine Mutter erzählt jedoch öfters, dass sie mir abends vor dem Schlafengehen vorgelesen hätte. Als ich in die Schule kam, hätten wir angefangen, für mich zur Übung gemeinsam im Wechsel zu lesen: Sie ein Wort, ich ein Wort, dann wieder sie und so weiter … sie spricht gerne davon und wenn sie dies tut, meine ich in ihrer Stimme den Widerhall einer Verbindung, eines geteilten Moments zu hören, was mich wiederum berührt. Versuche ich mir die Szene vorzustellen, höre ich einen Text, der sich in einem Dialog zweier Stimmen, in einem gegenseitigen Resonanzraum neu zusammensetzt. Aber was habe ich, was haben wir gelesen? Ich weiß es nicht mehr und frage nach. Mit gespielter Empörung, dass ich das vergessen konnte, zählt meine Mutter auf: »Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst, Der kleine Wassermann und Räuber Hotzenplotz.« Also das Bekannteste von Otfried Preußler, Kinderbücher, die er Mitte der 1950er Jahre zu schreiben und mit großem Erfolg auch international zu veröffentlichen begann. Obwohl meine Erinnerung ins Leere läuft, klingen die Namen der literarischen Figuren und ihres Autors fast unheimlich vertraut, als hätte ich heute – 50 Jahre später – noch eine tatsächliche Verbindung zu ihnen.
Anfang der 1970er Jahre zur Zeit meiner Einschulung vollzog sich ein sukzessiver Generationenwechsel, der auch mit einem päda-gogischen Wandel einherging. Während uns im Kindergarten noch rigide Höflichkeitsformen wie Knicks und Diener beigebracht wurden, lernten wir in der Grundschule mathematische Denkstrukturen ›spielerisch‹ und ›kindgerecht‹ mit den bunten Formen der Mengenlehre. Meine damalige Lehrerin übernahm direkt nach Abschluss ihres Studiums unsere erste Klasse. Als einer der wenigen arbeitenden und alleinerziehenden Mütter der Kleinstadt wurde ihr seitens der Elternschaft eine zwiespältige Mischung aus Skepsis und Neugierde entgegengebracht. Dennoch konnte sie zu meinem Glück in erster Linie meinen besorgten und vielleicht auch etwas beschämten Vater davon überzeugen, dass das ›Richten‹ meiner Linkshändigkeit mir mehr Schaden als alles andere zufügen würde, so dass es besser für meine ›normale‹ Weiterentwicklung sei, den Makel zu akzeptieren und mich mit links weiterschreiben zu lassen.
Das erste Buch, das ich bewusst für mich allein gelesen habe, war ein Band aus Astrid Lindgrens Die Kinder aus Bullerbü. Ich habe keine konkreten Namen oder Details der Geschichte mehr im Kopf, aber ich weiß um die Situation, in der ich mich selbst als Lesende wahrnahm: vormittags in einer ruhigen Wohnung, mein Vater hatte Nachtdienst und schläft im Zimmer nebenan, also muss ich leise sein, ich bin von der Schule zu Hause geblieben und liege im Bett, in Reichweite auf einem Stuhl stehen Dinge, die mit Kinder-Kranksein zu tun haben, wahrscheinlich ein Tablett mit einer Tasse für Kamillentee, ein Teller mit Zwieback oder Salzstangen und das Fieber-thermometer mit dem glänzenden Quecksilbertropfen als Markierung, den meine Mutter umständlich herunterschütteln musste, damit er sich beim Messen wieder nach oben bewegen konnte. In den Buchstaben, Silben und Sätzen, die ich mir mit meinen Augen erlas, kam ein Mädchen vor, das wie ich krank in ihrem Zimmer zu Hause in ihrem Bett liegt. Der Moment der Spiegelung hatte etwas Verwirrendes: Mich in eine sonnengewärmte Kindheitserinnerung von Astrid Lindgren an ihre liebevoll-chaotische bäuerliche Großfamilie hineinzuimaginieren und davon absorbieren zu lassen, gleichzeitig jedoch eine klare Grenze Außen-vor-zu-Sein zu spüren. Ohne, dass ich dafür eine Sprache gehabt hätte, beschäftigte mich das … es war wie ein Zurückfallen an den Ort, von dem aus ich mich spiegelte – den ich eindeutig als weniger idyllisch empfand als der, in den ich mich lesend hineinbegab. In diese schwebende Gleichzeitigkeit von hier und dort konnte ich mich einerseits wie in ein Versteck zurückziehen, andererseits gab sie mir die Möglichkeit, eine Außenperspektive zu entwickeln – von dem dort aus konnte ich auf das hier schauen und umgekehrt – und erlaubte mir so einen Abstand zu den Dynamiken zu Hause.
Mir fallen noch viele weitere Bruchstücke von Lesemomenten ein, Blicke auf Buchseiten, auf Text auf Papier, oft verknüpft mit dem Eindruck eines Umraums, einem Ort oder einem Zimmer, in dem ich sitze und lese und gleichzeitig da und nicht da bin. Das, was ich gelesen habe, waren zu Weihnachten oder zum Geburtstag geschenkte Bücher wie Heidi von Johanna Spyri, Pinocchio von Carlo Coldi, das meiste eben von Otfried Preußler und von Astrid Lindgren. Aber es gab auch viel Vererbtes oder auf irgendeinem Speicher Wiedergefundenes; Bücher, die meine Mutter, meine Onkel und Tanten als Kinder schon zerlesen hatten – etwa ein mit Streifen Leukoplast zusammengehaltener Band der Märchen von Hans-Christian Andersen in altdeutscher Schrift mit aufwändigen Jugendstil-Illustrationen, eine der – seit seinem Erscheinen 1845 bis heute – unzähligen Ausgaben des Struwwelpeters des Arztes und Jugendpsychiaters Heinrich Hoffman oder ein Wilhelm Busch-Sammelband aus den 1960ern mit den Geschichten von Max und Moritz von 1865. Und ein paar der sogenannten Backfischromane darunter, wie ich meine, Das Nesthäkchen von Else Ury, Pucki von Magda Trott und Elke von Emma Gündel. Ein Prototyp der Backfischromane, der zu den ersten Fortsetzungsromanen überhaupt zählt, war die ab 1885 erscheinende Reihe Der Trotzkopf von Emma von Rhoden. Von Autorinnen speziell für Mädchen in der Pubertät geschrieben, entwarfen sie meist über mehrere Bände hinweg den vorgemusterten Lebensweg einer jungen Frau in einem groß-bürgerlichen Setting mit Dienstboten und Klavierstunden als belehrend sentimentale Version Der Widerspenstigen Zähmung, in der nach einigen erzählerischen Umwegen und eingehegten Autonomieversuchen seitens der ›Heldin‹ normative Rollenerwartungen letztlich doch erfüllt werden und in Ehe und Mutterschaft münden. Als ich meine Mutter frage, welche der Jungmädchenromane – so wurden sie auch bezeichnet – sie selbst gelesen hätte und woher sie gekommen seien, hat sie noch vor Augen, dass sie einige Ausgaben aus der Reihe Elke von Emma Gündel von einer befreundeten Familie aus der Nachbarschaft zum Geburtstag und zu anderen Anlässen geschenkt bekommen hätte – an mehr kann sie sich nicht erinnern. Der erste Band Elke der Schlingel erschien 1937 und kurz darauf in schneller Abfolge sechs weitere bis 1938. Inhaltlich bedienten die sehr beliebten Elke-Romane passgenau die nationalsozialistische Familienideologie und ihr zugleich überhöhendes wie repressives Frauen- und Mutterbild. Nach dem 2. Weltkrieg ab 1948 wurde, an die vorherigen Ausgaben nahtlos anschließend, die Veröffentlichung weiterer Bände bis 1968 fortgesetzt.
Beim Aufzählen der Buchtitel und meinem Versuch mir zu vergegenwärtigen, was ich in meiner 1970er-Jahre-BRD-Kindheit gelesen habe, erschrecke ich mich – wie alt das alles damals schon war. Aus welchem Orkus der ›schwarzen Pädagogik‹ kamen diese Texte? Was wurde da unhinterfragt als kulturelles Gut hochgehalten und über mehrere Generationen wie dann auch an mich weitergereicht? Und: Was davon hat mich unbewusst wie geprägt, wie kann ich das rekonstruieren? Vieles davon erschien schon Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Wilhelminismus oder vor bzw. während des 2. Weltkriegs und stand in direkter autoritärer, patriarchaler und kolonialrassistischer Kontinuität. Aus meiner Kinderperspektive heraus hatten die meisten der Texte keine bestimmte Zeitlichkeit und auch keine zuordenbare Autor*innenschaft. Sie schienen generationenübergreifend gegeben. Von Büchern wie dem Struwwelpeter wusste ich nur, dass sie schon sehr ›alt‹ waren, dass sie meine Großeltern und auch Urgroßeltern schon gekannt hatten. Figuren daraus wie der Zappelphilipp oder der Suppenkasper waren im täglichen Sprachgebrauch, um kindliche – also unsere – Verhaltensweisen zu beschreiben und auch zu maßregeln, in meiner Herkunftsfamilie und teilweise auch in meinem Umfeld noch selbstverständlich.
Später, ich glaube, als ich anfing, mir selbst Bücher aus der evangelischen Gemeindebücherei auszuleihen, kam Anderes hinzu, fast unvermeidlich die aus dem Englischen übersetzten Bände Hanni und Nanni und Die 5 Freunde von Enid Blyton oder Die drei Fragezeichen von Robert Arthur. Und dann auch – obwohl ich eigentlich fast schon zu alt dafür war – die orangenen Bücher, dieser ganze Schwung an guten, besseren Büchern von Beltz und Gelberg, die sich aus einer antiautoritären Pädagogik speisten, bei denen ich ihre Vermittlungsabsichten oft schon mitlesen konnte und wusste, wo sie mich didaktisch abholen und hinbringen wollten. Zum Beispiel der Band Geh und spiel mit dem Riesen, der Anfang der 1970er Jahre mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde und in einem neuartigen enthierarchisierten Medien-Mix aus Comics, Zeichnungen, Fotos, Collagen, Gedichten, Rätseln, etc. zum »Kreuz-und-quer-lesen« Beiträge von Autor*innen und Graphiker*innen wie Michael Ende, Peter Härtling, Christine Nöstlinger, Janosch, James Krüss, Otfried Preußler und vielen anderen versammelte oder Der Anti-Struwwelpeter von Friedrich Karl Wächter und, auch von F.K. Wächter, 1976 Opa Huckes Mitmach-kabinett, in dem es auf einmal unfertige Texte oder leere Buchseiten zum Weiter- zum Selbermalen und -schreiben? gab. Ich konnte das Versprechen sehen, das mich einbezog und zum Mitsprechen einlud. Aber es schien sich nicht einzulösen – zumindest für mich nicht – und blieb seltsam ambivalent. Ich empfand die eingeräumten Freilassungen eher als Anforderung sie mit einer bestimmten Vorstellung von widerständiger kindlicher Kreativität zu füllen, die ich so nicht in mir finden konnte, ich hatte mehr Freude daran, liniertes Papier mit Schönschrift zu füllen. Allerdings stufte ich dies für mich als einen persönlichen Mangel ein und verortete darin wiederum auch etwas Mangelhaftes – ›weniger Avanciertes‹ oder ›Spießbürgerliches‹ – in meiner Herkunftsfamilie. Ich hatte noch keine Begriffe dafür, aber gerade an den als ›pädagogisch wertvoll‹ angesehenen Büchern machte ich einen Unterschied fest. Sie boten mir einen ersten bewusst wahrgenommenen Referenzpunkt für einen sozialen Vergleich: Die orangenen Bücher lagen nicht unter unserem Weihnachtsbaum, sie lagen unter den Weihnachtsbäumen in den liberal-aufgeklärten bildungsbürgerlichen Häusern einiger meiner Schulfreundinnen und Kusinen. In meiner Vorstellung wurden sie mit einem gewissen Stolz liebevoll verpackt dorthin gelegt. Paradoxerweise ging trotz meiner Ambivalenz meine Orientierung, mein Interesse und mein Begehren dahin.
Als ich nach der 10. Klasse eine Empfehlung für die Oberstufe bekam, war aus einem unausgesprochenen innerfamiliären Konsens heraus schnell klar, dass ich auf die neue integrierte Gesamtschule – die »Schule für Alle« wie meine Mutter sie zuletzt in einem Gespräch noch bezeichnete – im nächstgelegenen Ort gehen würde. Das vage Klassenbewusstsein fügte sich mit einer praktisch denkenden Bodenständigkeit in Abgrenzung zu anderen ›überkandidelten‹ Eltern der Kleinstadt, die höher hinaus wollten oder sich dort sowieso schon verorteten und ihre Kinder in die weitentfernte Landeshauptstadt auf eines der beiden humanistischen Gymnasien – Dilthey oder Leibniz – schickten, wo sie Latein und Griechisch pauken mussten. Meine Eltern hatten keinen besonderen Ehrgeiz, dass ich als Erste in meiner Kernfamilie Abitur machen würde – es gab kein Bild davon, wie eine ›höhere‹ Schullaufbahn für ein Mädchen aussehen könnte und worauf sie hinaus laufen würde. Vielleicht wäre es meinen Eltern in gewisser Weise sogar näher gewesen, wenn ich auf die Realschule gegangen wäre und danach eine Lehre gemacht hätte. Die umkämpfte Schulreform im sozialdemokratisch regierten Hessen mit den neu eingeführten Förderstufen, den auf dem Land im Zuge der Bildungsoffensive überall entstehenden integrierten Gesamtschulen, eröffnete Mitte der 1970er Jahre eine gewisse soziale Durchlässigkeit und ermöglichte meinen Bildungsweg.
Auf der Oberstufe hat sich dann auch das Lesen verändert. Es ging auf einmal um Literatur, also um ›deutsche Hochkultur‹, aber nicht zum Selbstzweck. Besonders für das Fach Deutsch formulierte die hessische Schulreform als Gegenentwurf zu den bis in die 1950er Jahre noch überwiegend aus dem Nationalsozialismus übernommenen und weitergetragenen Unterrichtsinhalten neue Lernziele. Schule sollte Demokratieunterricht sein und wir zu mündigen Bürger*innen erzogen werden. In diesem Sinne wurden die Texte und ihre Autor*innen nicht als unantastbare überlebensgroße Statuen der Ewigkeit gehandelt, vielmehr wurden sie aus ihrem historischen Kontext heraus zur Diskussion gestellt und wir dazu aufgefordert, sie anzuwenden und in einen Zusammenhang mit unserer konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen. Ich denke, dass ich von dieser Nahbarkeit des Literaturverständnisses für mein eigenes Lesen profitiert habe und mich mit Neugier und Lust Texten annähern konnte. Dennoch verblieb der sich als ›progressiv‹ verstehende Lese-Kanon in seiner patriarchal eurozentristischen Konstruktion vom Universell-Kanonischen und produzierte Ausschlüsse: Wir lasen zwar Bücher von als ›gesellschaftskritisch‹ geltenden Autoren wie Hermann Hesse, BertoltBrecht oder Heinrich Böll. Ich kann mich allerdings in 13 Jahren Schule nicht an einen konkreten Text, ein Gedicht, einen Roman, eine Erzählung oder Novelle einer deutschsprachigen Schriftstellerin erinnern. Erst im letzten Schuljahr im Französisch-Leistungskurs lasen wir eine Prosaminiatur der russisch-französischen Autorin Natalie Sarraute aus ihrem Band Tropismes von 1939. Ein Text, der in seiner experimentellen poetischen Form und der Art und Weise, wie er eine autobiografische Familienszene verdichtete und analysierte, die ich subjektiv nachvollziehen konnte, für mich ganz eindrücklich blieb.
Indem ich darüber schreibe, wird mir klarer, welche Bedeutung das Lesen in meiner Familie hatte. Lesen als Status, ja, aber nicht nur Status, auch Wissens- und Weltaneignung und damit verknüpft Mobilität, soziale Mobilität auch im Sinne eines Exodus aus der eigenen Klasse, aus den ›beengten Verhältnissen‹ – auf jeden Fall die Verheißung davon. In den wirtschaftlich noch prosperierenden 1960er/-70er Jahren und auch aufgrund der bundesweit kontinuierlich ausgebauten Bildungs- und Studienangebote fast eine jugendliche Massenbewegung. Mein drei Jahre älterer Bruder hat sich aus unserer bäuerlich-kleinbürgerlichen Familie mit einer Polizei-Anfänger-Besoldung heraus gelesen mit jedem weiteren Buch, das er zum Einkaufspreis von seiner Buchhändlerlehre aus der nächstgrößeren Stadt mit nach Hause nahm, in sein Zimmer brachte und dort zu den anderen Mengen an Büchern aufstapelte – in denen ich wiederum stöberte und in die ich mich hineinlas, ihm neugierig hinterher las, um ihn einzuholen und da anzukommen in der Bildungsperspektive mit Weggeh-, Selbstbestimmungs- und gleichermaßen Aufstiegschancen. Und das verwundert mich im Nachhinein: Trotz des protestantischen Arbeitsethos und einer sparsamen bäuerlichen Lebens- und Haushaltsführung ohne Weltliteratur oder sowieso kaum Literatur außer Büchern des Bertelsmann Buchclubs und eines Abonnements des Wochenmagazins Der Spiegel war es für meine Eltern, die beide nur knapp acht Jahre Volksschule hinter sich gebracht hatten, ›in Ordnung‹, wenn mein Bruder und ich uns zurückzogen, uns vereinzelten, stundenlang regungslos auf unseren Zimmern in einer Ecke saßen und unsere Augen, Köpfe und Gedanken in Büchern hatten … auch auf die Gefahr hin, dass wir uns auf die Dauer all des Lesens zu saumseligen, langhaarigen und weltfremden Bücherwürmern verwandeln würden. Aber vielleicht ging es gerade darum: Sich das leisten zu können und uns zu ermöglichen, nicht – wie sie selbst – vor der Schule im Stall und nach der Schule auf dem Feld oder im Steinbruch arbeiten zu müssen. Das unbewegliche Da-Sitzen war in dem Sinne akzeptabel, dass es nicht als ›vertane Zeit‹ oder Faulheit interpretiert wurde, sondern als eine Potentialität auf etwas hin gerichtet schien. Wie in Verpuppung befindliche Larven in denen sich etwas bewegt, etwas, das noch nicht da ist, das sich aber noch bilden, herausbilden und sichtbar werden würde in einem sich immer erweiternden weltläufig belesenen Lebenshorizont.
An dienstfreien Sonntagen initiierte mein Vater gerne beim Mittagessen neben Schnell-Ess-Wettkämpfen auch Wissens-Wettkämpfe, die oft mit dem Hervorholen des einzigen schon etwas abgegriffenen Konversationslexikons im Haus entschieden wurden. Er sah Belesenheit, die Aneignung von Wissen im Sinne einer Selbsterziehung sportlich, als eine Art körperlicher Ertüchtigung messbar und vergleichbar in den Ergebnissen von Gewinnen und Verlieren wie die Leichtathletik oder das Boxen, das er in Amateurwettkämpfen betrieb. Als mein Bruder dann eines Tages mit einem neuerschienenen kritischen Lexikon, das mit elf Bänden fast einen halben Meter im Regal ergab, nach Hause kam, hatte er die Definitionsmacht über das umkämpfte Terrain übernommen. Ich fand mich in diesem Szenario auf einem Spielfeld wieder, auf dem ich als Jüngste nicht wirklich punkten konnte. Ich verweigerte mich, indem ich mich entzog und mir eigene Wissenszugänge außerhalb suchte.
Ein Buch, das über einen anderen Weg zu mir gekommen ist und das umso wichtiger für mich wurde, war eine Leihgabe einer neuen Mieterin in unserem weißen rechteckigen Zweifamilien-Haus. Sie und ihr Mann zogen Anfang der 1980er Jahre direkt nach ihrem Staatsexamen auf Lehramt in die Wohnung unter uns. Für mich brachten sie etwas Neues mit. Nicht ihr alternativer Lebensstil mit Birkenstock-Schuhen, biodynamischem Gemüse und selbstgebackenem Brot interessierte mich – was mich beindruckte war vielmehr ihre Selbstbestimmtheit, die darin zum Ausdruck kam. Eine Selbstbestimmtheit, die sie auch als gleichberechtigtes Paar ausstrahlten: die Freiheit der Wahl füreinander. Das wirkte auf mich viel begehrenswerter als das mit Lebensbürde beschwerte »Es muss!«, das sich meine Großeltern und die anderen noch übrig gebliebenen Bauern in der Unterstadt, in der wir wohnten, beim morgendlichen Gruß gegenseitig zuwarfen. Aus einer mir heute unerklärlichen Sicherheit heraus, wusste ich, dass ich das auf keinen Fall wollte: Ich wollte wollen, nicht müssen. Dass sich in meiner Abgrenzung und in dem Ideal bürgerlicher Selbstverwirklichung auch ein Klassenwechsel spiegelte, war mir nicht bewusst. ›Verschwörerisch‹ wäre übertrieben, aber bestimmt mit einer gewissen Agenda, steckte mir die neue Untermieterin an einem Nachmittag, als ich bei ihr Vollkornkuchen aß, dieses Buch zu, in dem ich später oben in meinem Bett sofort zu lesen begann. Der Plot war denkbar einfach: Es war eine Art feministischer Science-Fiction, die eine Welt entwarf, in der alle geschlechtsspezifischen Scham-Gebote, Körper- und Verhaltensrestriktionen einfach umgedreht waren – nicht die weiblichen, die männlichen Körper mussten sich schamhaft bedecken, ihre Penisse und Hoden etwa wurden aufwändig in BH-ähnlichen textilen Halterungen ab--gebunden und versteckt. Auf diese Weise wurde alles bis ins Detail auseinandergenommen, vertauscht und ins Gegenteil verkehrt wieder zusammengesetzt und so in seiner zwanghaften binären Konstruiertheit fast didaktisch sichtbar gemacht und für mich als pubertierende Jugendliche nachhaltig ad absurdum geführt. Das Buch, dessen Autorin und Titel ich nicht mehr erinnere, war jedoch nicht wegen seines Inhalts so wichtig. Ich fühlte mich als gleichberechtigtes kritisch denkendes Gegenüber adressiert – diese Adressierung war kraftvoll. In dem An-mich-Weitergeben schien eine Komplizenschaft auf, deren Verbindungslinien quer zu den Zusammenhängen Familie, Schule oder Turnverein verlief, und die ich im Weiterempfehlen von Büchern, Texten oder Links zwischen mir und meinen Freund*innen als mikropolitische Alltagspraxis heute noch wiedererkennen kann.